Halle

In die Zukunft schauen

Zum Glück haben alle überlebt, aber an den meisten Gemeindemitgliedern ist das Attentat auf die Synagoge in Halle nicht spurlos vorübergegangen. Foto: imago images/Christian Schroedter

»Am Neujahrstag wird es geschrieben und am Versöhnungstag besiegelt, wie viele vergehen und wie viele entstehen, wer leben wird und wer sterben, wer an sein Ende gelangt und wer nicht an sein Ende gelangt.«

Diese beeindruckenden Worte aus dem Gebet »Unetane Tokef«, die an Rosch Haschana und Jom Kippur rezitiert werden, rufen beim aufmerksamen Lesen immer Gänsehaut hervor. Doch an diesem Jom Kippur werden sie für viele Menschen in Deutschland einen besonderen Sinn ergeben.

GERICHT In diesen Tagen steht der Attentäter in Magdeburg vor Gericht. Dadurch werden die Erinnerungen an den Anschlag in Halle vor einem Jahr sehr wach. Es wurde viel darüber gesagt und geschrieben, und jetzt wissen wir ganz genau, wie schmal damals der Grat zwischen Leben und Tod war.

Doch wenn es für die meisten Juden außerhalb der Stadt Halle an Jom Kippur wohl nur bei einer Gänsehaut bleibt, stellt sich die Frage, wie die Juden in Halle in diesem Jahr diesen bedeutenden Tag erleben werden. Gehen sie wieder zum G’ttesdienst, oder bleiben sie lieber zu Hause? Und spüren sie immer noch innere Spannung, wenn sie die beiden Wörter »Jom Kippur« hören?

Auch wenn einige Betende, die an jenem schicksalhaften Tag in der Hallenser Synagoge waren, jetzt sagen, dass sie die Geschehnisse von damals schon weggesteckt haben, ist das Attentat sicherlich an den meisten nicht folgenlos vorbeigegangen.

FILM Vor Kurzem filmte ein Fremder einen Betenden vor dem Eingang zur Synagoge. Was vor einem Jahr nicht mehr als eine Randnotiz gewesen wäre, rief bei den Teilnehmern des Minjans große Aufregung hervor.

Die Beter fühlten sich bedroht und wandten sich an die Polizei in der Wache. Die Beamten konnten in diesem Fall nichts machen – es ist nicht verboten, für private Zwecke zu filmen. Und auch wenn der filmende Mann kurz darauf wegging, zeigte dieser Vorfall deutlich, wie angespannt die Menschen immer noch sind.

In meinen Gesprächen mit den Gemeindemitgliedern sagten praktisch alle, dass sie auch in diesem Jahr Jom Kippur im Minjan feiern wollen.

In meinen Gesprächen mit den Gemeindemitgliedern sagten praktisch alle, dass sie auch in diesem Jahr Jom Kippur im Minjan feiern wollen – und dass sie kein Unbehagen dabei empfinden werden. Es sei genug Zeit vergangen, um das Schlimmste zu vergessen. Außerdem wird am Jom Kippur das Jiskor-Gebet gesagt, bei dem die Anwesenheit ein Muss ist –und das Leben geht weiter.

Jedoch kann man sich gut vorstellen, dass praktisch alle Beter die Toralesung nicht mehr aufmerksam verfolgen können, wenn es jetzt an Jom Kippur zur Toralesung kommt – genau in der Zeit, als vor einem Jahr der Anschlag vor der Synagoge seinen Lauf nahm.

Jedoch werden ganz direkte Vergleiche den Betenden in diesem Jahr erspart bleiben. Denn die Corona-Vorschriften, die nicht nur im Alltag, sondern auch bei den Schabbatg’ttesdiensten keine Freude bereiten, werden in diesem Fall zum Segen. Die Synagoge in Halle ist relativ klein, deshalb passen zurzeit, weil man die nötigen Abstände zwischen den Betenden gewährleisten muss, nicht alle hinein, die normalerweise zum G’ttesdienst kommen.

POLIZEISCHUTZ Und deshalb entschied sich der Vorstand der Gemeinde, in diesem Jahr eine große Halle in der Stadt zu mieten, um dort Rosch Haschana und Jom Kippur zu feiern (natürlich mit ausreichendem Polizeischutz). Dank dieser Maßnahme wird die Teilnahme für alle, die die Gebete besuchen möchten, möglich sein.

Ich hoffe, dass dadurch das Gefühl während der Tora-Vorlesung an Jom Kippur weniger beklemmend sein wird. Dennoch werden die Betenden auch in der gemieteten Halle den Anschlag von damals natürlich nicht komplett ausblenden können. Doch mehrere Landes- und Stadtpolitiker haben ihren Besuch an Jom Kippur angekündigt, um ihre Solidarität mit der Gemeinde zu bekunden. Das ist ein positives Zeichen für uns, und vielleicht wird auch dadurch der Umgang mit der Erinnerung weniger belastend sein, als es in der Synagoge der Fall gewesen wäre.

Doch es soll nicht nur bei der Erinnerung und bei der Überwindung bleiben. Das jüdische Volk verlor selbst in schlimmsten und dunkelsten Zeiten nie seinen Optimismus. Wir haben immer nach vorn geschaut, mit Zuversicht, dass es irgendwann besser sein wird.

Eine neue Sefer Tora wäre ein starkes Zeichen für die Gemeinde, dass das Leben weitergeht.

Und gerade das ist die wichtigste Idee von Jom Kippur – nicht bei Beichten und Gebeten zu bleiben, sondern sich fest zu entschließen, etwas spirituell Positives anzufangen.

MISCHKAN Wir lernen aus der Tora: Als Mosche nach der Sünde vom Goldenen Kalb von G’tt die Sühne für die Juden erhielt, bekam er gleichzeitig auch die Anweisung, den Mischkan, die Bundeslade, zu bauen. An Jom Kippur kehrte Mosche vom Berg Sinai zum Volk zurück und verkündete den Juden diese Anweisung. Sogleich am Tag nach Jom Kippur begannen die Menschen, Material für den Bau des Mischkans zu holen.

Das Gleiche wird in diesem Jahr auch in der Stadt Halle umgesetzt. An diesem Jom Kippur wird die Spendenaktion für eine neue Torarolle beginnen. Denn die Synagoge in Halle hat nur eine koschere Torarolle, was an den Feiertagen eine ziemliche Herausforderung darstellt.

Deshalb wäre eine neue Sefer Tora nicht nur eine echte Bereicherung für die Synagoge, sondern auch ein starkes Zeichen für die ganze Gemeinde, dass das jüdische Leben in Halle weitergeht. Die Beteiligung an dieser Aktion wird allen helfen, den Albtraum vom Anschlag hinter sich zu lassen und mit Optimismus in die Zukunft zu blicken.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinden zu Halle und Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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