Mitten in der Wüste begehen die Kinder Israels den zweiten Jahrestag ihrer Befreiung vom Joch der ägyptischen Sklaverei. So erzählt es uns der Wochenabschnitt Beha’alotcha. Es findet kein rauschendes Fest statt. Dennoch sollen sie auf Geheiß G’ttes »das Pessach(Lamm)-Opfer bereiten, zu seiner festgelegten Zeit«.
So gedachten sie, wie die Tora schreibt, am 14. Tag dieses ersten Monats Nissan gegen Abend gemeinsam der g’ttlichen Befreiung. Dann aber kamen einige aus dem Volk zu Mosche und brachten ihm ihr Anliegen vor: »Wir waren wegen unserer pietätvollen Aufgaben für unser Volk nicht in der Lage, an diesem Opfermahl der Freiheit teilzunehmen. Wir haben Beerdigungen vornehmen müssen. Warum sollen wir benachteiligt werden, indem wir das Opfer des Ewigen nicht darbringen dürfen zu seiner bestimmten Zeit unter den Kindern Israels?« (4. Buch Mose 9,7).
Mosche merkte, dass es den Männern sehr ernst war. Deshalb bot er ihnen an, dass er bei G’tt um Rat suchen werde. In der Tat ergeht prompt der Ratschluss des Ewigen: »Wenn irgendjemand unrein sein wird, durch Berührung eines Toten, oder aber (später) auf einer fernen Reise«, so kann er sein Opfermahl einen Monat später, am 14. des zweiten Monats, nachholen (9,10). Mit ungesäuerten Broten und bitteren Kräutern solle er es essen, so wie es zum Pessach geboten war.
Dies ist das einzige der biblischen Feste, das zwar eine festgelegte Zeit hat, aber auch adäquat nachgeholt werden darf.
Jom KIPPUR Der große Bußtag der Sühne und Versöhnung, Jom Kippur, zum Beispiel darf nur am selben Tag, am 10. Tischri, mit Fasten begangen werden. Er kann nicht nachgeholt werden. Sollte ihn jemand versäumt haben, müsste er allein, ohne die Gemeinschaft, die Wege der Vergebung ebnen. Sünde und Sühne lasten letztendlich auf den Schultern des Einzelnen.
Ganz anders verhält es sich mit dem Gedenkmahl der Befreiung. Durch diesen g’ttlichen Akt wurde Israel ein Volk. Diesen Akt immer wieder zu erleben und begehen zu wollen, stellt ein Bekenntnis dar, ein Zeichen der Identifizierung mit dem eigenen Volk, auch wenn das Opfermahl um einen ganzen Monat verschoben werden musste.
Selbst heute, da wir längst keinen Tempel in Jerusalem und keine Opfer mehr kennen, leben noch die Reste dieser Tradition, des wiederholten Pessachmahls: und zwar durch die Küche, durch die Speisepläne der jüdischen Häuser. An diesem Tag werden Mazzot gereicht, als Anlehnung an das ungesäuerte Brot des Pessachfestes. Der Magen ist ein guter Erinnerer.
Tempel In unserem Wochenabschnitt lernen wir auch einiges über den Tempelleuchter, hebräisch: Menora. »Wenn du die Menora aufstellst, sollst du sie so setzen, dass alle sieben Lichter gen Mitte leuchten« (4. Buch Mose 8,2).
Raschi, der volkstümliche Kommentator, der vor 980 Jahren in der französischen Stadt Troyes geboren wurde, meinte, folgenden Grund für diese Anordnung gefunden zu haben: Es solle niemand behaupten können, G’tt benötige dieses Licht, es sei G’tt selbst oder Sein Attribut.
Im allegorischen Sinne gedeutet, könnte diese Anordnung der Tora meinen, dass es eine Mitte, einen zentralen Punkt gibt, wohin die Lichter strahlen müssen. Wir Juden meinen, dass für uns diese »Mitte« das jüdische Land ist, wohin sich Juden aus der ganzen Welt wenden. Sie erkennen es als einen Kernpunkt ihres Judeseins.
Der deutsch-jüdische Historiker Heinrich Graetz, der vor 130 Jahren in München starb, und Simon Dubnow, der russische Historiker und Theoretiker des Judentums, den die Nazis vor 80 Jahren in Riga ermordeten, sahen in der jüdischen Diaspora außerhalb des Heiligen Landes die Mission des Judeseins im Glauben an den einzigen G’tt und der Verkündung der ethischen Normen für eine gerechte Gesellschaft.
Ascher Zwi Hirsch Ginsberg (1856–1927), bekannt unter dem Pseudonym »Achad Haam« (hebräisch: »einer des Volkes«), war ein zionistischer Aktivist und Journalist. Er stellte sich das jüdische Land als kulturelles Zentrum des Judentums vor. Es sollte sein Licht in Richtung Diaspora für die dort lebenden Juden ausstrahlen.
Der österreichisch-ungarische Schriftsteller, Publizist und Journalist Theodor Herzl (1860–1904), der Begründer des modernen Zionismus, sah im biblischen Land einen Ort des Asyls für alle verfolgten Juden in der Welt. In seinen Werken sprach Herzl nicht einmal über die Notwendigkeit eines jüdischen Staates, sondern beschränkte sich nur auf eine Heimstätte. Seine Nachfolger mussten aber, insbesondere nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, einsehen, dass keiner der aufgeschlossenen, liberalen, demokratischen Staaten in Europa oder in Amerika bereit gewesen war, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, um sie vor dem Untergang zu retten. Daher änderten sie ihr Programm und strebten nach der Schoa einen jüdischen Staat an.
Seit nunmehr 73 Jahren gibt es diesen Staat inzwischen. Er bekräftigt in uns das Bewusstsein, dass uns die Wurzeln und die Geschichte des jüdischen Volkes an dieses Land binden.
Propheten Schon die prophetische Botschaft ließ die Bindung an dieses Land niemals als Privileg erscheinen. So verkündete der Prophet Amos vor rund 2800 Jahren die Worte des Ewigen: »Aus allen Geschlechtern auf Erden habe Ich allein euch erkannt; darum will Ich auch euch heimsuchen in all euren Verfehlungen« (3,2). Die jüdische Geschichte zeigt ganz klar, wie oft wir durch Verfolgung und Vertreibung heimgesucht wurden.
Unser Wochenabschnitt schildert auch deutlich den Kleinmut der Israeliten während ihrer Wanderung durch die Wüste. Nachdem sie dort von G’tt mit Wasser und Manna versorgt wurden, »war das Volk missgestimmt und beklagte sich auf eine dem Ewigen missgefällige Weise. Und als der Ewige dies hörte, ergrimmte Sein Zorn und zündete Sein Feuer unter ihnen an« (4. Buch Mose 11,1). Doch Mosche, dem aufopfernden Lehrer Israels, gelang es, den Ewigen milder zu stimmen.
Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.
inhalt
Der Wochenabschnitt Beha’alotcha beginnt mit den Vorschriften für das Licht im Stiftszelt. Danach bringt er weitere Vorschriften für die Leviten. Außerdem wird ein zweites Pessachfest für diejenigen eingeführt, die es im Monat Nissan nicht feiern konnten. Ferner wird geschildert, wie am Tag eine Wolke und nachts eine Feuersäule die Anwesenheit des Ewigen am Stiftszelt anzeigen. Immer wenn die Wolke sich vom Stiftszelt entfernte, setzten auch die Kinder Israels ihren Zug fort.
4. Buch Mose 8,1 – 12,16