Schabbat

In der Ruhe liegt die Kraft

Kung Fu: Auch in der fernöstlichen Philosophie und Kampfkunst gilt es, zu sich selbst und zu innerer Ruhe zu finden. Foto: imago

Eine der größten Innovationen im Judentum war der Schabbat. Ein Tag von sieben, an dem der Markt geschlossen ist, keine Arbeit verrichtet wird, ein Limit für das ökonomische Streben gesetzt ist. Dies hat ein gesellschaftliches Gleichgewicht im jüdischen Leben hergestellt, welches es vor dem kollektiven Burnout bewahrt hat. Das mag der Grund sein, warum das Judentum – der Glaube eines kleinen und oft machtlosen Volkes – überlebt hat, und die großen Imperien nicht.

Ich habe einen Freund – weit über 70 Jahre alt – der regelmäßig 20 oder 30 Kilometer läuft. »Was«, fragte ich ihn einmal, »ist das Geheimnis deiner Ausdauer?« »Ausruhen«, pflegte er zu sagen, »jede Stunde fünf Minuten ausruhen.«

Neuerschaffung Ruhe ist das Geheimnis des Überlebens. Und der Schabbat ist dessen großartigste zivilisatorische Verkörperung. Die Griechen in der Antike verstanden den Schabbat nicht. Sie dachten, dass die Juden an einem Tag in der Woche die Arbeit ruhen ließen, weil sie faul seien. Doch sie lagen völlig falsch. Denn der Schabbat ist die »Neuerschaffung«. Es ist eine Zeit, die man den Dingen widmet, die eine Markwirtschaft am Laufen halten, aber von ihr bedroht werden: Familie, Gemeinde, Feiern, Gebet, Studium und Reflexion.

In einer Gesellschaft, die den Schabbat ehrt, beherrschen die Menschen die Arbeit und werden nicht zu deren Sklaven. In einer Gesellschaft ohne Ruhetag wären wir viel zu sehr damit beschäftigt, Geld zum Leben zu verdienen, die uns aber keine Zeit zum Leben lassen würde.

Das erste große Prinzip des Zeitmanagements ist es, zwischen dem Dringlichen und dem Wichtigen zu trennen. Es heißt: Das Wichtigste ist immer zu wissen, was wichtig ist. Die Zeit am Schabbat ist den Dingen gewidmet, die wichtig, aber nicht dringlich sind: Zeit mit dem Ehepartner und den Kindern verbringen, gemeinsame Mahlzeiten einnehmen. Wir können das genießen, was wir haben, anstatt an das zu denken, was wir nicht haben. Und wir haben Zeit, G’tt in Gesellschaft unserer Glaubensbrüder und -schwestern für seinen Se-
gen zu danken.

Die menschliche Freiheit wird ebenso durch die Fähigkeit ausgedrückt, die Arbeit zu unterbrechen. Für einen Tag. Der Schabbat ist das große Gegengewicht, welches den Markt vor der Selbstzerstörung bewahrt, und sicherstellt, dass Wohlstand ein Mittel zum Zweck und nicht der Zweck selbst bleibt.

Kirk Douglas In seiner Autobiografie Climbing the Mountain: My Search for Meaning (Simon & Schuster, 1997, New York/USA) hat der berühmte amerikanische Schauspieler und Produzent Kirk Douglas die letzten Momente im Leben seiner Mutter beschrieben.

Kirk Douglas kam als Issur Danielovitch als Sohn seines Vaters Herschel (Harry) und seiner Mutter Byrna auf die Welt. Byrna kam aus der sogenannten alten Welt, sie sprach kaum Englisch. »Als ich meine eigene Produktionsfirma in den frühen 50er-Jahren gründete, nannte ich sie nach meiner Mutter Byrna.«

Byrna zündete jeden Freitagabend vor Sonnenuntergang die Kerzen an. »Und ich erinnere mich gern daran, wie sie unsere turbulente Familie zur Ruhe brachte, während sie auf der Veranda saß, und laut aus ihrem hebräischen Gebetsbuch vorlas«, schreibt Kirk Douglas.

Der Schauspieler fährt in seiner Biografie fort: »Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sie gestorben ist. Sie lag schon einige Zeit im Krankenhaus. Meine Schwestern und ich blieben an ihrer Seite, während ihre Kräfte immer mehr nachließen, immer wieder das Bewusstsein verlierend. Eines Tages, in der Abenddämmerung, setzte sie sich auf, und fragte, ›Welcher Tag ist heute?‹. ›Freitag, Mama.‹ ›Vergesst nicht, am Schabbat die Kerzen zu zünden.‹ Schnell brachten wir vier Kerzen in den Raum, und begannen diese anzuzünden. Die Krankenschwestern kamen angerannt und schimpften. Mit dem Sauerstoff im Raum hätten wir das Krankenhaus in die Luft sprengen können. Also sind wir zu meiner Schwester Betty nach Hause gefahren, und haben dort die Kerzen gezündet. Danach, bin ich allein ins Krankenhaus zurückgefahren. Ich war überwältigt von der Würde und Haltung meiner Mutter. Während ich meine Mutter so betrachtete, in ihrem Krankenhausbett, muss ich selbst ganz schön ängstlich ausgesehen haben, denn sie schaute zu mir auf, mit einem gelassenen und klaren Lächeln auf ihrem Gesicht. Es war die Art Lächeln, das sie immer am Schabbat hatte, während sie auf der Veranda saß und aus ihrem Gebetsbuch vorlas. Ich schluckte. Ich hielt den Atem an, und beobachtete, wie meine Mutter einatmete, und ausatmete, sehr langsam, jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen, bis dann auf ein langes Ausatmen nichts folgte.« Sie konnte in Frieden gehen, weil sie den Schabbat hatte. Der Schabbat füllt unser Leben mit dem, was größer ist als das Leben.

Zuhause Hunderte von Generationen war der Schabbat für Juden das Epizentrum der jüdischen Woche. Freitag bei Sonnenuntergang füllte eine neue Energie das Zuhause. Die Mütter und die Töchter entzündeten eine glühende Flamme, und brachten somit ein wenig Licht zurück in die Welt. Das Zuhause wurde in einen Palast verwandelt. Der Vater wünschte seinen Kindern »einen guten Schabbes« und gab ihnen einen Kuss, und die Mutter umarmte jedes ihrer Kinder mit ganz viel Liebe.

Keiner in der Familie ging aus. Kein Kino, keine Bar, Ballett, Fitnesstudio, Basketball, Klavierunterricht, Aerobic, Shopping, keine Oper. Auch kein: »Ich muss noch schnell ins Büro und etwas erledigen«. Eltern hatten einfach Zeit, sich hinzusetzen, mit ihren Kindern zu schmusen, gut zu essen, schöne Lieder zu singen und die Gesellschaft der anderen zu genießen. An einem Abend in der Woche konnte sich jeder Teenager sicher sein, dass seine Mutter oder sein Vater nicht zu beschäftigt sein würde, dass er oder sie die volle Aufmerksamkeit der Eltern haben würde. Einen Abend in der Woche konnte eine Ehefrau sich sicher sein, dass ihr Mann nicht nur »Ja« sagen würde, während sie mit ihm spricht und er dennoch seine E-Mails liest.

Wie sehr brauchen wir heute doch dieses Geschenk, um eine g’ttliche Verbindung zwischen der Ruhe und der Arbeit zu schaffen, mit Frieden im Mittelpunkt. Dabei muss man nicht orthodox sein, um das Geschenk des Schabbats zu erhalten. Es genügt, ein Verlangen nach einer größeren Tiefe und größeren menschlichen Intimität im Leben zu haben. Und wem von uns verlangt es nicht danach?

Experiment Versuchen Sie dieses Experiment: Wenn der Freitagabend kommt, zünden sie die Schabbatkerzen an. Isolieren Sie sich von allen Gegenständen, die piepsen, klingeln, summen und blinken. Schalten Sie den Fernseher und das Radio aus. Stellen Sie das Handy auf »off«. Und auch gleich den Computer. Setzen Sie sich an den Tisch, machen Sie den Kiddusch über den Wein, segnen Sie Ihre Kinder, und sagen Sie ihnen, wie wichtig sie Ihnen sind, und wie glücklich Sie sich schätzen, dass sie in Ihrem Leben sind. Erläutern Sie ihnen, wie dankbar Sie G’tt sind, dass Er Ihnen diese Seelen gegeben hat. Machen Sie die »Mozi«, den Segen über die leckeren Challot. Genießen Sie das Essen, singen Sie, sprechen Sie über ein jüdisches Thema, eine von der Tora inspirierte Idee.

Sie werden feststellen, dass dies einen ganz besonderen Effekt auf Sie selbst und ihre gesamte Familie und die Gäste haben wird, und die Unterhaltung untereinander deutlich intensiver wird. Versuchen Sie dies vier Wochen lang. Und wenn Sie nicht dieses Wunder sehen, das Wunder dieses ganz besonderen Tages, werden Ihnen die Minuten, die Sie nicht am Handy verbracht haben, zurückerstattet.

Am Schabbat dominieren wir nicht und kontrollieren nicht. Stattdessen sind wir ein Teil des Ganzen, eine Einheit mit unseren Seelen, mit unseren Liebsten, mit G’tt, mit der ganzen Welt. Es ist die Gelegenheit, dass wir, das jüdische Volk, uns selbst und der Welt das Konzept des Schabbats geben müssen – damit wir nicht unseren eigenen Erfolgen zum Opfer fallen, unserer Arbeit Bedeutung und einen Sinn geben, ein Reichtum, der perfekt mit unserer inneren Seele und Spiritualität synchronisiert ist.

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024

Talmudisches

Elf Richtlinien

Wie unsere Weisen Psalm 15 auslegten

von Yizhak Ahren  29.11.2024

Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Manche Israelis feiern auf den Straßen, wenn Terroristenführer getötet werden. Doch es gibt rabbinische Auslegungen, die jene Freude über den Tod von Feinden kritisch sehen

von Rabbiner Dovid Gernetz  29.11.2024

Potsdam

In der Tradition des liberalen deutschen Judentums

Die Nathan Peter Levinson Stiftung erinnerte an ihren Namensgeber

 28.11.2024

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  28.11.2024

Berlin

Spendenkampagne für House of One startet

Unter dem Dach des House of One sollen künftig eine Kirche, eine Synagoge und eine Moschee Platz finden

von Bettina Gabbe, Jens Büttner  25.11.2024

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024