Zürich, 5.45 Uhr in der Früh, die Straßen liegen ruhig und leer im Schein der Laternen da. Die ersten Anzeichen der winterlichen Kälte sind, obwohl der Herbst gerade erst begonnen hat, dank der frühen Tagesstunde und dem Fahrtwind auf dem Fahrrad deutlich zu spüren.
Dies sind meine ersten Erinnerungen an die besondere Zeit der Slichot. So werden die speziellen Zusatzgebete genannt, die in den Tagen vor und während der Hohen Feiertage zugeschaltet werden, in vielen Gemeinden als Auftakt des Tages noch vor dem Morgengebet. So auch in der Israelitischen Religionsgesellschaft Zürich (IRGZ), in der ich aufwuchs.
Die Gemeinde betrieb damals, gut 30 Jahre ist es inzwischen her, ein Slichot-Projekt für Kinder. Jedes Gemeindekind im Grundschulalter durfte daran teilnehmen und ein Formular von auserwählten Leuten ausfüllen lassen, auf dem täglich während der Slichot-Zeit aufgeführt war, ob man am Gebet teilgenommen hatte, pünktlich erschienen war und sich gut benommen hatte.
Taschenmesser Dies war angesichts der frühen Stunde und der Komplexität der ungewohnten und langen Gebetstexte keine leichte Herausforderung. Jedoch wurden diejenigen, welche durchhielten, mit einem Original Schweizer Taschenmesser belohnt.
Gleichzeitig war dieses Projekt für mich persönlich eine frühe Gewöhnung an die täglichen Gebete in der Synagoge. Die frühmorgendlichen Fahrradfahrten quer durch die noch dunklen Straßen und das tägliche Zusammentreffen mit vertrauten Gesichtern blieben seit dieser Zeit Teil meiner Kindheits- und Jugendnostalgie.
Vielerorts werden die Slichot in den frühen Morgenstunden vor dem Morgengebet gesagt. Dies ist eine besondere Zeit des himmlischen Wohlwollens, was im wunderschönen Pijut »beAschmoret haboker« des vierten Tages der aschkenasischen Slichot-Gebete zum Ausdruck kommt: »In der Frühwache des Morgens rief ich Dich an, gepriesener Allmächtiger ... erleuchte meine Dunkelheit, sodass wie das Licht des Morgens mein König und G’tt gepriesen werde, denn zu Dir bete und hoffe ich.« Auch die Zeit nach Mitternacht eignet sich für die Slichot-Gebete – sie wird von manchen Gemeinden bevorzugt. Umstritten ist die Zeit vor Mitternacht, sie wird aber von Rabbiner Moshe Feinstein gutgeheißen.
mozei schabbat Eine weitere besondere Erinnerung der Slichot-Tage verbindet mich mit dem ersten Bußgebet, welches am Mozei Schabbat kurz vor Rosch Haschana stattfindet. Die Bnei-Akiwa-Jugendbewegung, der ich angehörte, hatte den Brauch, gemeinsam von Zürich in die Nachbargemeinde nach Baden zu fahren, um dort den Auftakt der Slichot zu begehen.
Damit knüpfen wir auch bereits an die Besonderheiten der Slichot-Bräuche an. Von wann an werden Slichot gesagt? Sefardim – orientalische Juden – beginnen die Slichot-Gebete bereits mit dem Beginn des Monats Elul und führen sie während 40 Tagen bis zum Versöhnungstag fort.
Aschkenasim – »europäische« Juden – beginnen die Slichot-Gebete erst am Mozei Schabbat (Schabbatende) vor dem Neujahrsfest, sofern dieses auf Donnerstag oder Schabbat fällt. Wenn Rosch Haschana aber auf Montag oder Dienstag fällt, dann werden die Slichot auf den Mozei Schabbat in der Woche davor vorgezogen.
Kitniot Woher kommen diese unterschiedlichen Bräuche? Von den Sefardim wird zwar behauptet, dass sie um mehr Vergebung bitten müssten, weil sie an Pessach im Gegensatz zu den Aschkenasim Kitniot (Hülsenfrüchte) essen dürfen. Aber der wirkliche Grund für den früheren Beginn ist wohl ein anderer.
Laut Rabbiner Hai Gaon (10. Jahrhundert) hängt dies mit dem dritten Aufenthalt von Moses auf dem Berg Sinai zusammen, der am 1. Elul begann und mit dem Versöhnungstag am 10. Tischri, 40 Tage später, endete. Während dieser Zeit erreichte Moses vollkommene Vergebung für die Sünde des Goldenen Kalbes und darüber hinaus Kraft der Teschuwa (Umkehr), sogar eine noch intensivere Nähe zu G’tt, verbunden mit der Anleitung, wie mit dem Gebet der 13 Midot, der Eigenschaften G’ttes, stets um Vergebung für Sünden gebetet werden kann.
Es ist eine Zeit der fühlbaren G’ttesnähe, über die der Prophet Jesaja spricht (55,6): »Forschet nach G’tt, da Er sich befindet, ruft Ihn an, da Er nahe ist!« Die Zeit gipfelt im g’ttlichen Versprechen, das Moses am 10. Tischri gegeben wurde: »Ich vergab, wie du mich gebeten hast«, womit dieser Tag zum stets wiederkehrenden Versöhnungstag wurde.
Es gibt noch weitere Erklärungen für den sefardischen Brauch. Im Buch Kaf Hachaim werden zwei Gründe angeführt: Die 40 Tage bis Jom Kippur entsprechen den 40 Tagen, die von der Zeugung eines Kindes bis zum Status eines Embryos führen (vermutlich als Symbol für das Potenzial, das schließlich zu einer eigenen Existenzform herangedeiht), oder sind ein Korrektiv für die 40 Tage, während der die Kundschafter das Land Israel erkundeten und schließlich das Volk zur Sünde verleiteten.
Für den aschkenasischen Brauch gibt es ebenfalls verschiedene Begründungen. Bei allen soll mit den Slichot spätestens vier Tage vor Rosch Haschana begonnen werden. Erst wenn Rosch Haschana (wie in diesem Jahr) auf Donnerstag fällt und nicht auf einem früheren Wochentag, sind in derselben Woche also vier Tage gewährleistet.
25. Elul Im besagten Fall fällt der Schabbat vor Rosch Haschana auf den 25. Elul. Gemäß Rabbi Elieser im Talmud (Rosch Haschana 10b) wurde die Welt bekanntlich am 1. Tischri mit dem sechsten Tag der Schöpfung zu Ende erschaffen. Der 25. Elul ist also nach Wochentagen zurückgerechnet der erste Tag der Schöpfung und somit laut Rabbenu Nissim auch ausschlaggebend für den Auftakt der Slichot direkt im Anschluss an Schabbat.
Eine weitere Erklärung sieht in den vier Tagen die Zeiteinheit, die für die Vorkontrolle von Opfern nötig war, wie etwa vor dem Auszug aus Ägypten, wo das Pessachopfer vom 10. bis zum 14. Nissan inspiziert wurde. Ähnlich sollen wir uns spirituell bereits vier Tage vor dem Gerichtstag inspizieren und auf mögliche Fehler überprüfen.
Der Lewusch (Rabbiner Mordechai ben Abraham Jaffe, 1530–1612) führt die Zeit der Slichot auf die zehn Tage der Teschuwa – der Umkehr – zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur zurück. Viele pflegten den Brauch, an diesen Tagen zu fasten. Da es aber vier Tage während dieser Zeit gibt, an welchen nicht gefastet werden darf – zwei Tage Rosch Haschana, Schabbat und Erew Jom Kippur –, wurden diese vier Tage vor Rosch Haschana vorgezogen und somit auch von Slichot-Gebeten begleitet.
Der Mozei Schabbat eignet sich nach der aschkenasischen Auffassung besonders für den Auftakt der Slichot, um von der Heiligkeit des Schabbat direkt in die Atmosphäre der Bittgebete einzutauchen. Dies zeichnet sich am zentralen Pijut der ersten Slichot, dem Pismon »beMotzei menucha«, ab: »Am Ausgang des Ruhetages sind wir Dir direkt zuvorgekommen, neige Dein Ohr aus der Höhe, das Gebet und das Flehen zu erhören.«
Tallit Obwohl Anzahl und Anordnung der Gebete bereits vor 2500 Jahren festgelegt wurden, tragen die Slichot-Gebete, welche erst vor etwa 1300 Jahren zum festen Brauch wurden, mehrere Merkmale der Gebetsform. So trägt der Vorbeter in vielen Gemeinden ebenso wie beim Gebet auch bei den Slichot einen Tallit (Gebetsmantel).
Der Ablauf erinnert sehr an das Mincha-Gebet: Zu Beginn Aschrei (Psalm 145), der Vorbeter spricht den halben Kaddisch, die Slichot-Bittgebete entsprechen der Amida, dem eigentlichen Gebet vor G’tt, abgeschlossen wird mit dem Kaddisch titkabal, welches sonst nur im Anschluss an das besagte Amida-Gebet gesprochen wird (Ursprung: Tur, im Namen von Rabbiner Amram Gaon, Machsor Vitri).
Das Aufsagen der 13 Midot – Eigenschaften und Führungswege G’ttes –, das eigentliche und immer wiederkehrende Kernstück der Slichot, das als Gemeinschaft mit voller Andacht rezitiert werden soll, gibt auch gleichzeitig den Kern dessen wieder, worum es bei den Slichot geht: Vergebung und Rückkehr zu unserem wahren Ich! »Der Ewige, der Ewige, Allmächtiger, voll Erbarmen und Gnade, langmütig, voller Huld/Güte und wahrhaft ...«
Die Doppelung des Anrufes G’ttes weist, so Rabbiner Soloveichik in seinem Werk Über die Umkehr, darauf hin, dass der Bereuende die Gelegenheit hat, das Verhältnis zu G’tt wieder so herzustellen, wie es vor der Sünde existierte, und zu seinem wahren inneren Ich, von dem er sich durch die Sünde entfernte und entfremdete, zurückzukehren.
In manchen Gemeinden wird das Widuj – das Sündenbekenntnis – am Ende der Slichot-Gebete drei Mal aufgesagt. Dies lehnt an das dreifache Bekenntnis des Hohepriesters am Jom Kippur an, der zunächst für sich und sein Haus, dann für die Priester und schließlich für das gesamte jüdische Volk das Bekenntnis vor G’tt ablegte.
Engel Gegen Ende der aschkenasischen Slichot treffen wir ein Gebet an, das höchst umstritten ist: »Machnisei rachamim«. Hierbei werden die Engel angerufen, die unser Erbarmen, unsere Gebete und unser Flehen an G’tt herantragen sollen. Der Maharal von Prag war gegen dieses Gebet, da die Gefahr der Verwechslung besteht: Die Engel dürfen nicht als eigene Instanz angebetet werden.
Obschon der Sde Chemed diese Ansicht nicht teilt und die Engel mit bloßen Fürsprechern vor G’tt gleichstellt, wurde an der Jeschiwa in Maale Adumim, an der ich studierte, dem Oberhaupt gefolgt und der ersten Meinung gemäß das Gebet übersprungen. Dies entspricht auch ganz der rationalistischen Anschauung der Jeschiwa im Sinn von Moses Maimonides (1135–1204). Denn nach Rambams fünftem Glaubensgrundsatz ist streng darauf zu achten, beim Gebet nur und allein G’tt anzurufen.
Diese Ausführungen über die Slichot können nicht ohne den gewaltigen Eindruck enden, den bei mir die Bußgebete in Jerusalem hinterließen. Jahr für Jahr finden sich zur Zeit der Slichot Zehntausende um Mitternacht an der Klagemauer ein, die Straßen der Altstadt sind überfüllt, im Luftbild sind auf dem Platz vor der Kotel nur noch Menschenköpfe auszumachen.
Vor zwei Jahren schloss ich mich zusammen mit meinem ältesten Sohn, damals elfjährig, an. Als aus den Lautsprechern in sefardischer Melodie zuerst das Schma Jisrael und die Annahme G’ttes als König erscholl, um gleich darauf von den Zehntausenden gleichzeitig in einem Rausch der Schallwellen erwidert zu werden, konnten wir eine Vorstellung von der Bedeutung des Satzes erhalten: »Berov am hadrat melech« – »In der Vielheit des Volkes liegt der Ruhm des Königs«!
Das Echo hallt noch bis heute nach. Damit wurde mir ein weiterer Aspekt der Slichot deutlich: Sehnsucht und Verlangen – nach G’ttes Gegenwart in unserer Mitte.