Meine Frau starrte mich an, als käme ich von einem anderen Stern. »Was soll das heißen, du weißt nicht, ob du zur Hochzeit meines Cousins kommen kannst?«, fragte sie indigniert. Sie hatte ihre Verwandten jahrelang nicht gesehen und freute sich darauf, mit ihrem Ehemann – wir sind seit 28 Jahren verheiratet – ein gemeinsames Wochenende ohne unsere erwachsenen Kinder zu verbringen. »Aber die Hochzeit ist am Samstagnachmittag, bevor der Schabbat zu Ende ist. Und sie liegt in den drei Wochen der Trauer zwischen dem 17. Tamus und Tischa BeAw – und in dem Jahr, in dem ich Kaddisch sage«, antwortete ich und wusste, dass keine meiner Begründungen sie überzeugen würde.
Julia und ich hatten uns an einem Jom Kippur in den 70er-Jahren kennengelernt, als wir beide Mitte 20 waren. Wir gehörten keiner religiösen Richtung an, waren 0815-Juden, die nur lose mit Religion und Tradition verbunden waren. Sie war in der Reformbewegung aufgewachsen und blieb eine stolze Jüdin, die sich nicht für weniger jüdisch als andere hielt, nur weil sie weniger observant ist. Ich bin mit dem konservativen Ritus aufgewachsen, als Sohn eines Schoa-Überlebenden, mit Eltern, die fließend Jiddisch sprachen und sich an die grundlegenden Gebote der Tora hielten, wie das, Milch und Fleisch zu trennen (obwohl meine Mutter dabei unerklärliche Ausnahmen machte, wie zum Beispiel Muschelsuppe).
praxis Wir entwickelten unsere eigenen Wege der religiösen Praxis. Für unser erstes Kind, eine Tochter, gestalteten wir eine Namenszeremonie. Wir fanden einen Mohel und ließen unsere beiden Söhne beschneiden. Wir gingen in eine Reformsynagoge, weil wir dort die meisten Freunde trafen. Unsere Kinder besuchten eine religiöse Schule, und wir gingen häufig am Freitagabend zum Gottesdienst.
Doch nach 20 Jahren fing ich an, den Unterricht eines Rabbiners zu besuchen, für den die Tora eine spirituelle Roadmap darstellte. Bald ging ich jeden Schabbatmorgen in die Synagoge und geriet in Konflikt mit den Soccerspielen unserer Kinder. Wir begannen, eine konservative Synagoge zu besuchen, doch Julia fühlte sich dort nicht wohl. Sie ging nicht mehr hin, obwohl ich sie ständig damit nervte, was natürlich kontraproduktiv war. Und ich begann, meine früheren Schulkameraden zu beneiden, deren Freundeskreise viel stärker von jüdischer Bildung geprägt waren als meiner.
streitigkeiten Schabbat und Feiertage wurden zum Anlass ständiger Streitigkeiten. Gottesdienste kollidierten mit Einladungen unserer weniger observanten jüdischen Freunde, also der Mehrheit, oder mit Julias Wunsch, am Samstagabend ins Kino zu gehen, auch wenn der Schabbat noch nicht zu Ende gegangen war. »Warum suchst du dir nicht eine orthodoxe Frau und heiratest sie?«, fragte Julia in ihren verzweifelten Momenten. Ich ignorierte ihren Vorschlag. Zwar hielt ich die Scheidung für eine Lösung, aber für eine zu schmerzhafte. Außerdem würde ein solcher Schritt nur bestätigen, was meine Frau und andere über mich dachten – nämlich, dass ich »bis zum Ende« gehen würde.
Doch als die Hochzeit näherrückte, sah ich unsere Auseinandersetzungen auf einmal aus einer neuen Perspektive. Interessanterweise kam sie von einem echten Chassiden, Rabbi Nachman aus Bratzlaw, der einmal sagte, man kann sich selbst kein Hindernis sein, das man nicht überwinden kann. Für mich bedeutete das, dass ich einen Weg finden musste, zu mehr Einheit in meiner Ehe zu kommen, auch wenn wir oft unterschiedlicher Meinung waren. Ich suchte einen Rabbi auf, der zum Thema »Heiliges Chaos des Lebens« publiziert hatte. »Die Frage ist, ob du das Judentum in Verbindung mit der Haltung bringen willst, dich ›heiliger‹ als jemand anders zu fühlen und ihn zu verurteilen«, sagte der Rabbi. »Anscheinend willst du das nicht, sonst würdest du mich nicht fragen, was du tun sollst.«
Ich war erstaunt. In den Tagen danach kam ich zu dem Schluss, dass ich die letzten 15 Jahre damit verbracht hatte, Julia, meinen Kindern und unseren Freunden das Gefühl zu geben, ich sei ein »heiligerer« Mensch als sie alle. Und selbst wenn ich mich nicht immer so benommen hatte, hatte ich so gedacht – und ich war ein schlechterer Ehemann, Vater und Freund gewesen, als es Gott von mir erwartet hatte.
liegestühle Ich ging zu der Hochzeit. Ich versuchte, der Partner zu sein, in den sich meine Frau vor vielen Jahren verliebt hatte. Wir saßen am Samstagnachmittag auf Liegestühlen in der Sommersonne Floridas. Ein Pfarrer und ein Rabbiner amtierten. Ich hielt Julias Hand. Danach umarmte ich Julias Cousin, den Brautvater, und gratulierte ihm. Ich nippte am Champagner und tostete dem jungen Paar zu. »Ich finde es toll, wie flexibel du neuerdings bist«, sagte Julia, während die Band spielte – und sie lächelte.
Für mich bedeutete dieses Wochenende einen Wendepunkt. Mir wurde klar, dass ich meiner Frau ein Versprechen gegeben hatte; dass ich verpflichtet bin, Julia zuzuhören und für sie da zu sein, egal, welche Herausforderungen das Leben mit sich bringt – und dass es auch zur spirituellen Praxis gehört, sie in meinen Armen zu halten und die Freuden und Leiden des Lebens gemeinsam zu fühlen. Das ist nicht immer einfach. Aber wenn ich merke, dass meine Inflexibilität und die Stimme »Ich bin ›heiliger‹ als du« zurückkommen, dann versuche ich, mich daran zu erinnern, dass es auch zu Gottes Geboten gehört, ein sensibles Herz zu haben.