Der Monat Tewet ist der zehnte Monat im jüdischen Kalender, wenn man den Frühlingsmonat Nissan als ersten Monat annimmt. Der zehnte Tag des Monats Tewet ist ein Fastentag – er erinnert an die Zerstörung des ersten jüdischen Tempels in Jerusalem.
Das Jerusalemer Heiligtum war vor seiner Zerstörung nicht nur ein nationales, lokales Symbol für das Judentum, sondern auch ein universales, ein internationales. In Jesaja 56,7 steht: »Sie werde ich bringen nach meinem heiligen Berge und sie erfreuen, in meinem Bethaus ihre Ganzopfer und ihre Schlachtopfer werden gnädig aufgenommen auf meinem Altare, denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker!«
Vision Diese Vision ist nicht nur die des Propheten Jesaja, sondern ein entsprechendes Gebet sprach auch König Salomon bei der Tempeleinweihung – siehe 1. Könige 8, 41–43: »Und auch auf den Ausländer, der nicht von deinem Volke ist, und er kommt aus fernem Lande, um deines Namens Willen (…). Und er kommt und betet in diesem Hause. Höre du im Himmel der Städte deines Sitzes und tue alles, was der Ausländer tut, damit alle Völker der Erde deinen Namen erkennen, dich zu fürchten, wie dein Volk Israel, und dass sie erkennen, dass dein Name genannt wird über diesem Hause, das ich gebaut.«
Das Ziel war und ist es, die Anerkennung G’ttes über das Volk Israel hinaus zu erweitern – über Grenzen hinweg in der gesamten Welt. Der 10. Tewet, der Fastentag, erinnert an die Blockade Jerusalems. Jerusalem war völlig von der Außenwelt abgeriegelt, was dazu führte, dass die Stadt letztendlich fiel und der Tempel zerstört wurde.
Vier Fastentage Doch warum ist dieser Tag heute von so großer Bedeutung – gibt es doch andere, schwerwiegendere Katastrophen in der Geschichte des jüdischen Volkes? Um diese Frage zu beantworten, betrachten wir nun alle vier Fastentage, die einen Bezug zum Tempel haben.
Der erste von ihnen ist der 10. Tewet. An diesem Tag begann die Blockade, die Isolierung Jerusalems von der Außenwelt. Der zweite Fastentag ist der 17. Tamus, der Tag, an dem die Stadtmauern Jerusalems niedergerissen wurden. Der 9. Av ist der dritte – nämlich der Tag, an dem sowohl der erste als auch der zweite Tempel zerstört wurden. Der vierte Fastentag ist am 3. Tischrej und wird Zom Gedalja genannt. Wir gedenken an diesem Tag der Ermordung Gedaljas – er war ein bedeutender Mensch, ein Anführer Israels, nachdem das Volk nach Babylonien in die Diaspora gehen musste.
Ist es denn überhaupt sinnvoll, uns in mehreren Etappen an die Zerstörung des Tempels zu erinnern? Reicht denn der 9. Av als Gedenktag an die Zerstörung der beiden jüdischen Tempel nicht aus?
Stufen Wir sollten diese vier Fastentage als verschiedene Stufen betrachten – oder sie uns als vier Kreise mit unterschiedlichen Radien veranschaulichen. Der erste Tag entspricht einem Kreis mit dem größten Radius, darauf folgt ein mittig liegender Kreis mit einem kleineren Radius und so weiter. Je kleiner der Radius, desto mehr nähern wir uns dem Mittelpunkt, dem Zentrum, dem Kern der Angelegenheit.
Der erste Kreis mit dem größten Radius steht für den 10. Tewet, für die Isolation Jerusalems von der Außenwelt. Die zweite Stufe und der Kreis mit einem kleineren Radius ist der 17. Tamus, an dem die Stadtmauern fielen, der Nationalstaat des jüdischen Volkes angegriffen und vernichtet wurde. Am 9. Av, der dritten Stufe, kam es zur Zerstörung des Geistes, der Religion. Mit dem Mord in der vierten Stufe, am 3. Tischrej, wurden die Persönlichkeit, das Individuum und seine Hoffnungen zerstört.
Lehre Dazu steht in Jesaja 2, 3: »Und viele Nationen werden ziehen, und sprechen: Wohlan, lasset uns hinaufgehen zum Berge des Ewigen, zum Hause G’ttes Jakobs, dass er uns lehre von seinen Wegen, und wir wandeln auf seinen Pfaden, wenn Zion wird ausgehen die Lehre und das Wort des Ewigen.« In diesem Vers, nach der Zerstörung des Tempels, spricht Jesaja von einer Vision. Er sagt, es werde in Zukunft wieder so sein wie in der Zeit vor der Zerstörung des Tempels. Jedoch ist es die Aufgabe des Volkes Israels, den Völkern der Welt die Existenz G’ttes aufzuzeigen, damit sie ihn anerkennen und den Weg zum Ewigen finden werden.
Der 10. Tewet ist deshalb von so großer Bedeutung, da genau an diesem Tag die Verbindung zwischen Jerusalem und der restlichen Welt unterbunden und unterbrochen wurde. Dieser traurige Fastentag war ein Tag, an dem die globale Vision der Anerkennung G’ttes zusammenbrach.
Der 10. Tewet steht also für die Errichtung von Mauern, von Isolation, sowie zwei weitere Ereignisse, die Mauern in den Köpfen der Menschen entstehen ließen, obwohl es eigentlich das Ziel war, zwischen Juden und anderen Völkern eine Brücke zu bauen. Zum einen war das der Targum ha Schiw’im, das bedeutet »Übersetzung der 70«.
Übersetzung Die Griechen wollten mit dem »Targum ha Schiw’im« die Tora ins Griechische zu übersetzen lassen. Dazu beauftragten sie 70 Menschen, die separat und unabhängig voneinander die Tora übersetzen sollten. Nach dem Abschluss dieser Aufgabe wollte man die Übersetzungen vergleichen und die geeignetste veröffentlichen. Dadurch wollten die Griechen die von ihnen vermuteten Geheimnisse der Tora und des Glaubens lüften.
Dieses Projekt wurde am 8. Tewet fertiggestellt. Im Talmud Bawli, im Traktat Megila, Blatt 9, Seite 1 und 2 steht dazu, dass dieses Ereignis die Welt in Finsternis hüllte. Mit Finsternis ist hier große Trauer gemeint.
Trauer deshalb, weil die Übersetzung, die von den Griechen veranlasst wurde, nicht die ursprüngliche Aussagekraft der Tora hatte. Durch die Übersetzung wurde vieles verfälscht, weggelassen oder hinzugefügt; sie war inhaltslos. Es fehlte auch der Aspekt der mündlichen Tora. Es war nur eine reine Übersetzung, wie ein Buch. Es mangelte ihr an der Essenz und der Spiritualität der Tora. Dies war ein Schritt zur Zerstörung des Volkes Israels. Er führte zur Annäherung zwischen Juden und Griechen, zur Vermischung der Völker, zum Angriff von Griechen auf Juden, bis hin zur Ermordung.
Christentum Das zweite Ereignis, die Geburt Jesu, steht mit dem 10. Tewet in Verbindung. Man kann die beiden Ereignisse als Fehlversuche werten, das Judentum zu universalisieren. Das frühe Christentum hat sich nicht als neue Religion gesehen, sondern als eine neue Richtung im Judentum, die ihre Tore für die ganze Menschheit öffnen wollte. Diese Öffnung und das Ziel der Zugänglichkeit für alle funktionierte jedoch nicht, es kam zur Abspaltung und Entstehung einer neuen Religion.
Der Tempel in Jerusalem war einst das Zentrum der Welt. Die vier Fastentage zeigen uns, wie dieses Universelle zerfallen ist. Unser Ziel jedoch ist es, zu diesem Urzustand zurückzukehren. Versuche, die nicht im Sinne der Tora waren, wie der der Griechen oder die Abspaltung vom Judentum, führten und führen nicht dazu. In Zecharia 8, 19 steht: »So spricht der Ewige der Heerscharen: Das Fasten des vierten und des fünften, des siebten und das Fasten des zehnten werden dem Hause Jehuda zur Wonne und Freude und zur fröhlichen Festzeiten, aber Wahrheit und Frieden liebet.«
Mit dem vierten ist der Monat Tamus, mit dem fünften der Monat Av, mit dem siebten der Monat Tischrej und mit dem zehnten der Monat Tewet gemeint. Die Aussage des Propheten ist, dass der Tag der Freude kommen wird und die Universalität naht.
Frieden Wir müssen in rechte Bahnen lenken, was auf dem Weg zu unserem Ziel falsch gelaufen ist. Und wir können es schaffen, wenn wir die Weisheit aller Völker vereinen mit dem Licht und der Existenz G’ttes. Wenn wir das schaffen, dann werden die Worte der Propheten wahr. Die Fastentage werden sich in Freudentage wandeln, und wir werden mit allen zusammen in Harmonie und Frieden leben können.
Der Autor ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).