Der Talmud (Schabbat 30b) berichtet, dass der Gelehrte Rabba seine Vorträge mit einem Witz einleitete. Die Kommentatoren erklären dies damit, dass gute Laune dabei hilft, unsere Gedanken besser zu ordnen. Ich möchte diese talmudische Tradition aufgreifen und den Kommentar zum Wochenabschnitt Schemot mit einem Witz einleiten.
Ein frommer Jude steht an der Klagemauer und fragt G’tt: »Wie lange dauern für Dich eine Million Jahre?« Der fromme Mann vernimmt die Stimme G’ttes, die ihm antwortet: »Für Mich gibt es keine Zeit. Eine Million Jahre auf der Erde gleichen für Mich einer Sekunde.«
Daraufhin fragt der fromme Mann: »Herr, wie viel ist für Dich eine Million Dollar?« G’tt erwidert: »Mir gehören alle Reichtümer dieser Erde. Eine Million Dollar sind für Mich wie ein Cent.« Da sagt der fromme Mann: »Mein Schöpfer, gib mir doch einen von Deinen Cents.« Daraufhin hört er G’tt sagen: »Eine Sekunde bitte!«
Wege Dieser Witz spiegelt ein ernstes Thema im Leben des gläubigen Menschen wider. Im Buch Jeschajahu (55, 8–9) heißt es: »Denn Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht Meine Wege, spricht G’tt, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch Meine Wege höher als eure Wege und Meine Gedanken als eure Gedanken.«
Die Wege G’ttes sind verborgen. Unsere Gebete werden selten direkt beantwortet, und der Plan G’ttes lässt sich oft nur aus der Retrospektive erkennen. Dieses Dilemma schafft die Verbindung zum Wochenabschnitt Schemot. Darin offenbart sich G’tt Mosche und sagt ihm, dass er nach Ägypten ziehen soll, um dem Volk Israel zu verkünden, dass G’tt ihre Sklaverei schon bald beenden wird. Doch Mosche möchte diese Aufgabe zunächst nicht übernehmen.
Das Schma Jisrael lehrt uns, dass Adonai unser Elohim ist.
»Mosche sprach: Siehe, sie werden mir nicht glauben und nicht auf mich hören, sondern werden sagen: ›G’tt ist dir nicht erschienen.‹ Da sprach G’tt zu ihm: ›Was hast du da in deiner Hand?‹ Er sprach: ›Einen Stab.‹ Er aber sprach: ›Wirf ihn auf die Erde. Und er warf ihn auf die Erde; da ward er zur Schlange, und Mosche floh vor ihr. Aber G’tt sprach zu ihm: ›Streck deine Hand aus und erhasche sie beim Schwanz!‹ Da streckte er seine Hand aus und ergriff sie, und sie ward zum Stab in seiner Hand« (2. Buch Mose 4, 1–4).
Diese Episode der Tora ist Gegenstand verschiedenster Kommentare geworden. Manche sehen sie als Symbol für die ursprüngliche Schlange im Garten Eden. Und diese wiederum ist das Symbol für das Böse.
Kernidee Die Macht G’ttes erstreckt sich sowohl über das Gute als auch über das vermeintlich Böse. Der Stab, der die g’ttliche Führung repräsentiert, so wie die Schlange, die das Chaos repräsentiert – beide sind dem Befehl G’ttes unterworfen. Beide sind Teil eines barmherzigen Plans.
Vielleicht wollte der Allmächtige Mosche mit dieser Symbolik motivieren, nach Ägypten zu ziehen, da genau diese Symbolik die Kernidee des Judentums darstellt – die Kernidee, die das gerade in Ägypten versklavte Volk Israel in Zukunft mit der Welt zu teilen hat.
Der absolute Monotheismus bedeutet nicht nur den Glauben an den einen G’tt und die Ablehnung anderer G’ttheiten. Es bedeutet auch, an die Einheit des g’ttlichen Handelns zu glauben – daran, dass das von uns als böse und ungerecht Empfundene Teil eines g’ttlichen Plans darstellt, der einzig und allein barmherzig ist.
Auch das von uns als ungerecht Empfundene ist Teil eines barmherzigen g’ttlichen Plans.
Im Schma Jisrael sprechen wir: »Höre Israel, G’tt (Adonai) ist unser G’tt (Eloheinu), G’tt (Adonai) ist eins!« (5. Buch Mose 6,4).
Die verschiedenen Namen G’ttes stehen für verschiedene Attribute des g’ttlichen Handelns: Der Name Adonai repräsentiert das von uns als barmherzig wahrgenommene und der Name Elohim das von uns als streng oder manchmal auch unangenehm wahrgenommene Handeln G’ttes.
Das Schma Jisrael lehrt uns, dass Adonai unser Elohim ist – also, dass selbst das von uns als streng wahrgenommene Handeln G’ttes eigentlich barmherzig ist. Denn G’tt (Adonai) ist eins.
Alejnu-Gebet Diese Idee findet sich auch im Alejnu-Gebet wieder. Es endet mit den Worten des Propheten Secharja: »An jenem Tag wird der Ewige eins und Sein Name eins sein« (14,9).
Der Talmud (Pessachim 50a) ist über die Worte des Propheten zunächst sehr bestürzt. Wenn G’tt erst »an jenem Tag eins« sein wird, impliziert es doch, dass es zurzeit noch nicht so ist. Dies widerspricht dem monotheistischen Gedanken. Der Talmud antwortet auf dieses Dilemma: Heute gibt es Dinge, die wir in unserer Subjektivität als positiv bewerten, und Dinge, die wir als negativ bewerten.
Objektiv gesehen, ist daher G’tt zwar einzig, doch unsere Wahrnehmung hat das Elend der Welt als Gegenpol zu dieser Einheit ständig vor Augen. »An jenem Tag«, also an dem Tag, an dem das messianische Zeitalter anbricht, soll auch das von uns Menschen als schlecht Empfundene eine Neubewertung erhalten.
Im messianischen Zeitalter soll die Klarheit darüber, dass alles nur zum Guten war, zur menschlichen Natur werden. Doch was soll der Mensch vor dem Anbruch dieses Zeitalters tun? Die Theodizeefrage plagt gläubige Menschen aller Religionen.
»Wenn G’tt das Leid dieser Welt aufhalten kann, wieso tut Er es dann nicht?«
Im Buch Mischlei wird »der Schlange Weg auf dem Felsen« als eines der drei unverständlichsten Dinge aufgezählt (30,19). Die Schlange symbolisiert hier wieder das Böse, das trotz »G’tt, dem Fels der Welten« (Jeschajahu 26,4) existieren darf.
Den Weg des Lebens mit dem Glauben an G’tt zu gehen, obwohl dieser Weg in Abschnitten ungerecht scheint, ist eine hohe Kunst. Vielleicht ist deswegen das hebräische Wort für Künstler (Uman) eng verwandt mit dem hebräischen Wort für Glaube und Vertrauen (Emuna).
Gleich einem Künstler versucht der Gläubige, mit seinem inneren Auge im rohen Material das Endergebnis zu erblicken. Gleich dem Gläubigen vertraut der Künstler auf seine innere Stimme, die den Weg zum Kunstwerk weist.
Beide unternehmen den Versuch, dem Geistigen durch das Irdische und Physische einen Ausdruck zu verleihen.
Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Schemot erzählt von einem neuen Pharao, der die Kinder Israels versklavt. Er ordnet an, alle männlichen Erstgeborenen der Hebräer zu töten. Eine Frau aus dem Stamm Levi will ihren Sohn retten und setzt ihn in einem Körbchen auf dem Nil aus. Pharaos Tochter findet das Kind, adoptiert es und gibt ihm den Namen Mosche. Der Junge wächst im Haus des Pharaos auf. Erwachsen geworden, erschlägt Mosche im Eifer einen Ägypter und muss fliehen. Er kommt nach Midjan und heiratet dort die Tochter des Priesters Jitro. Der Ewige spricht zu Mosche aus einem brennenden Dornbusch und beauftragt ihn, zum Pharao zu gehen und die Kinder Israels aus Ägypten hinauszuführen.
2. Buch Mose 1,1 – 6,1