Im Talmudtraktat Nidda (30b) finden wir Aussagen über das Leben eines Fötus. »Rabbi Simlai trug vor: Das Kind im Leibe seiner Mutter gleicht einer gefalteten Schreibtafel (hebräisch: Pinkas). Seine Hände an den zwei Schläfen, die Armgelenke an beiden Kniegelenken, beide Fersen an den zwei Hinterbacken, und der Kopf befindet sich zwischen den Schenkeln … Auf seinem Kopf brennt ein Licht, und das Kind schaut und sieht von einem Ende der Welt bis zum anderen Ende«. Es gibt keine Tage, die der Mensch so angenehm verbringt wie diese.
Warum bringt man dem Fötus die ganze Tora bei, wenn man sie ihn dann wieder vergessen lässt?
Das ist aber noch nicht alles, was das ungeborene Kind erfährt: »Man lehrt es die ganze Tora, wie es heißt: ›Er unterwies mich und sprach zu mir: Es erfasse dein Herz meine Worte, wahre meine Gebote, und du wirst leben‹ (Mischlei 4,4) … Sobald das Kind das Licht der Welt erblickt, kommt ein Engel, gibt ihm einen Klaps auf den Mund und lässt es die ganze Tora wieder vergessen, denn es heißt: ›Vor der Tür ruht der Mangel‹ (1. Buch Mose 4,7).«
Fötus Rabbi Simlai berichtet weiterhin: »Der Fötus kommt von dort nicht eher heraus, als bis man ihn hat schwören lassen, denn es heißt: ›Denn mir beugen wird sich jedes Knie, jede Zunge schwören‹ (Jesaja 45,23) … Wie lautet der Schwur, den man ihn schwören lässt? Sei ein Gerechter (hebräisch: Zaddik) und nicht ein Frevler (hebräisch: Rascha). Und auch wenn die ganze Welt zu dir sagt, du seiest ein Zaddik, so sei doch in deinen Augen ein Rascha. Und wisse, dass der Heilige, gepriesen sei Er, rein ist, Seine Diener rein sind, und die Seele, die Er in dich getan, rein ist. Bewahrest du sie in Reinheit, so ist es recht, wenn aber nicht, so nehme ich sie dir ab.«
Der Schwur erinnert daran, dass niemand perfekt ist.
Beim Lesen des zitierten Talmudtextes drängt sich die Frage auf: Warum bringt man dem Fötus die ganze Tora bei, wenn man sie ihn dann wieder vergessen lässt? Rabbiner Jakob Ettlinger gab darauf folgende Antwort: Der Unterricht ist deshalb notwendig, weil der spätere Schwur sonst überhaupt nicht verständlich wäre; Torawissen ist die Voraussetzung für das Leben eines Gerechten.
Rabbiner Joseph B. Soloveitchik hat eine andere Antwort: Er meint, Rabbi Simlai wolle uns sagen, dass ein Jude, der eifrig die Tora studiert, mit einer bereits bekannten Materie konfrontiert wird und nicht mit einem fremden Stoff. Toralernen sei also die Wiederaneignung von etwas Vertrautem. Diese Auffassung erinnert an Platons Erkenntnistheorie und Seelenlehre.
Schicksal Der Schwur, von dem Rabbi Simlai berichtet, macht uns deutlich, dass das menschliche Schicksal nicht vorherbestimmt ist. Jeder Mensch kann wählen, ob er als Zaddik oder als Rascha leben will. Der Satz »Und auch wenn die ganze Welt dir sagt, du seiest ein Zaddik, so sei doch in deinen Augen ein Rascha« scheint im ersten Augenblick der folgenden Mischna (Sprüche der Väter 2,18) zu widersprechen: »Sei nicht in deinen Augen ein Rascha!«
Jedoch haben beide Sätze ihre Berechtigung: Der Schwur erinnert daran, dass niemand perfekt ist; jeder ehrliche Mensch wird etwas finden, das er verbessern könnte. Die gesunde Selbstkritik darf aber nicht so weit gehen, dass man sich für einen Rascha hält, dessen Buße Gott nicht annehmen wird. Der Ewige erhört jedes aufrichtige Gebet und ist gnadenvoll gegen Sünder.
Rabbi Simlai hat das Bild einer zusammengefalteten Schreibtafel verwendet. Und Rabbiner David Flatto hat dieses Bild wie folgt erläutert: Wenn unsere Weisen von einem offenen Pinkas reden, dann meinen sie, dass auf der Tafel Handlungen des Menschen registriert werden. Ein Fötus kann noch nicht handeln; daher ist der Pinkas noch leer, zusammengefaltet. Erst nach der Geburt fängt eine »Buchführung« an. Welch ein Kontrast wird uns vor Augen geführt: Beim Fötus ist die »Wissensbank« voll, die Schreibtafel hingegen noch eine Tabula rasa. Der Amoräer Rabbi Simlai lehrt, dass der Mensch nie eine Zeit so angenehm verbringt wie die gezählten Tage im Mutterleib.