Am vergangenen Schabbat haben wir in der Synagoge den Toraabschnitt »Toldot« gelesen. Und wir haben für unsere Brüder und Schwestern in Israel gebetet. Israel ist im Krieg, der Süden des Landes, aber auch Tel Aviv und Jerusalem stehen unter Beschuss. Drei Menschenleben sind zu beklagen, es gibt viele Verletzte, darüber hinaus ist erheblicher Sachschaden entstanden. Bis zu einer Million Menschen muss immer wieder Schutzräume aufsuchen. Und Zehntausende Soldaten sind zum Dienst einberufen worden, stehen für eine mögliche Bodenoffensive bereit.
Was hat nun der Toraabschnitt mit der aktuellen Entwicklung in Israel zu tun? Eine ganze Menge, wie ich nachfolgend erläutern möchte. Im Abschnitt der vergangenen Woche heiratet Isaak Rebekka, sie bringt die Zwillinge Esau und Jakob zur Welt. Die Jungen wachsen heran, und Esau, Isaaks Lieblingssohn, wird zum Jäger, während Jakob fleißig lernt. Eines Tages kommt Esau erschöpft und hungrig nach Hause. Er bittet Jakob, die von ihm zubereitete Suppe mit ihm zu teilen. Jakob willigt ein, aber nur unter der Bedingung, dass Esau ihm sein Geburtsrecht verkauft. Esau ist einverstanden und verkauft Jakob sein Geburtsrecht für einen Teller Suppe.
Isaak wird alt, seine Augen werden trübe. Er äußert den Wunsch, seinen geliebten Sohn Esau zu segnen, bevor er stirbt. Während Esau hinausgeht, um seines Vaters Lieblingsspeise zu erjagen, zieht Rebekka Jakob die Kleidung Esaus an, bedeckt ihn, um die stärkere Behaarung Esaus vorzutäuschen, bereitet eine ähnliche Speise zu und schickt Jakob mit dem Essen zu seinem Vater. Isaak, der annimmt, dass Jakob sein Sohn Esau ist, segnet ihn.
hass Als Esau wiederum von der Jagd heimkehrt und erfährt, was sein Bruder getan hat, bricht er in heftiges Schluchzen aus. Warum erst jetzt? Warum hat Esau erst dann für seinen Bruder Jakob Hass empfunden, als dieser ihm seinen Segen nimmt? Warum hat er ihn nicht schon gehasst, als dieser ihm sein Geburtsrecht für einen Teller Suppe abkaufte? Muss man von einem Menschen zweimal betrogen werden, um ihn zu hassen?
Dann kommt die wichtigste Frage. Sollte eine Frau sich so verhalten, dass sie ihren Mann hinters Licht führt? Wenn Rebekka einen triftigen Grund dafür hatte, dass Esau den Segen seines Vaters nicht verdiente, warum hat sie dann nicht mit Isaak darüber gesprochen?
In der Tat hatte Rebekka einen guten Grund dafür, Esau den Segen nicht zu gewähren. In der Bibel steht geschrieben, dass Jakob »ein Bewohner der Zelte des Studiums« sei, im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder Esau, der als »geschickter Jäger, ein Mann des Feldes« beschrieben wird. Rebekka bevorzugt Jakob aus guten und rechtschaffenen Gründen. Esau war eindeutig ein Mensch, der nicht dafür auserkoren war, ein treuer Diener G’ttes zu sein. Der Bund Abrahams muss sicherlich über Jakob fortbestehen.
macht Jakobs Nachfahren wurden zum Volke Israel, während Esau der Vorvater der römischen Zivilisation mit ihrer Kultur der rücksichtslosen Macht wurde. Warum also hat Rebekka diese Einsicht nicht mit ihrem Mann besprochen? Warum hat Isaak Esau so lieb gehabt und ihm seinen Segen geben wollen? Isaak, der spirituelle Erbe Abrahams, hat sicherlich die moralische Größe Jakobs anerkannt.
Doch Isaak hat in Esau eine Eigenschaft erkannt, die Jakob fehlte: physische Kraft und Durchsetzungsvermögen. Isaak spürte, dass Jakob zwar spirituell höhergestellt war, aber in einer Welt voller Brutalität und Gewalt muss man in der Lage sein, sich zu verteidigen. Jakob, der sanfte Gelehrte in den Zelten der Tora, verfügte nicht über das nötige Temperament, um Kriege zu führen und grausame Gegner zu bekämpfen.
In Isaaks idealistischer Vision würde Jakob den spirituellen Kern des jüdischen Volkes ausmachen, während Esau dessen materieller Beschützer sein würde. Jakob würde mit der Spiritualität Abrahams gesegnet sein, Esau würde der Segen der materiellen Welt gewährt werden. Zusammen wären sie das ideale Team. Isaak hoffte, dass seine Zwillingssöhne mit ihren jeweiligen Talenten zusammenarbeiten würden. Er plante, Esau den materiellen Segen des Wohlstandes zu geben, und das spirituelle Geburtsrecht an Jakob.
struktur Rebekka hatte jedoch erkannt, dass Esau noch nicht bereit war für eine Partnerschaft. Esau war zu aggressiv geworden, um sich seiner Aufgabe bewusst zu werden, der Erbauer der Struktur zu sein, in der Jakob würde leben können. Stattdessen würde er versuchen, den eher spirituellen Jakob zu unterminieren, um ihn schließlich komplett zu besiegen. Jakob müsste dann einige der Eigenschaften Esaus entwickeln, um in unserer Welt zu überleben und sie in einen Hort der Güte und G’ttlichkeit zu verwandeln.
Das war der Grund für Rebekkas Handeln. Sie zog Jakob die Kleidung Esaus an, um ihn zu lehren, dass er manchmal das Gewand Esaus würde überziehen müssen. Manchmal wird die Geschichte ihn dazu aufrufen, Esaus Schwert zu erheben und ein »geschickter Jäger, ein Mann des Feldes« zu werden. Gewiss, nur sein äußeres Gewand wird von Esau sein. Im Grunde seines Herzens darf er nicht vergessen, dass er Jakob ist – sein primärer Fokus und seine Rolle sind die spirituelle Einheit mit G’tt. Doch äußerlich, um zu überleben und die Welt zu verändern, muss er das Gewand Esaus überziehen.
Deswegen begann Esau erst nach der Episode mit dem Segen, Jakob zu hassen, nicht nach der Episode mit dem Geburtsrecht. Zu dieser Zeit widmete sich der Erstgeborene dem spirituellen Dienst. Der Erstgeborene war der »spirituelle Botschafter« für die gesamte Familie. Dies konnte Esau akzeptieren. Es störte ihn nicht, dass Jakob den ganzen Tag in der Jeschiwa saß, mit Tallit und Tefillin, heilige Texte studierte und mit G’tt tanzte. Esau konnte sich mit Religion abfinden, die sich innerhalb der Synagoge und dem Beit Midrasch abspielte. Er tolerierte die Juden mit langen Bärten und Schläfenlocken, die sich in Jerusalem oder Brooklyn beim Studium und beim Gebet hin und her wiegen.
kokon Als Esau aber erkennt, dass Jakob genauso gut in seine Kleidung schlüpfen kann, macht ihn das wütend. Solange Jakob in seinem kleinen »Schtetl« bleibt und in seinem religiösen Kokon isoliert ist – was soll’s? Aber wenn Jakob sich plötzlich auf den Weg macht, um Jüdischkeit in den öffentlichen Raum zu bringen, wenn er moderne Schulen und Synagogen errichtet, Menoras im Zentrum der Stadt aufstellt, dann verunsichert das Esau in seinem tiefsten Inneren. Wenn Jakob darauf besteht, die reale Welt heilig zu machen, indem er Jüdischkeit auf den Marktplatz der Mainstream-Kultur und -Ideen bringt, genau dann fühlt Esau sich bedroht.
In der vergangenen Woche hat Israel das Gewand Esaus genommen, hat sein »Schwert« erhoben, um sich gegen die bösartigen, brutalen Angriffe der Hamas zu verteidigen, die allein in den letzten Tagen mehr als 1000 Raketen auf Städte, Häuser, Wohnungen und Schulen abgeschossen hat.
Viele Menschen, trotz guter Absichten, verstehen es einfach nicht. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen ruft Israel dazu auf, sich zurückzuhalten. Das ist unglaublich. Dabei ist Gaza nur ein paar Kilometer entfernt von der israelischen Zivilbevölkerung. Wie würde Deutschland wohl reagieren, wenn eine Terrorgruppe, 15 Kilometer von Berlin oder Frankfurt entfernt, innerhalb einer Woche nicht eine, nicht zwei, sondern mehr als 1000 Raketen auf Wohngebiete, Schulen oder öffentliche Plätze abschießen würde? Ich bin mir sicher, der Ort würde dem Erdboden gleichgemacht werden. Doch Israel wird aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Von uns wird erwartet, dass wir diesen Wahnsinn tolerieren.
geschick Solange Jakob ein »guter Junge« ist, der Hightech-Geräte produziert und intellektuelle Zeitschriften herausgibt, solange Jakob den Talmud studiert, tritt der Hass Esaus nicht zutage. Wenn Jakob aber sein Geschick beim Kämpfen zeigt, kann Esau dem Juden nicht verzeihen, dass dieser aufrecht steht in einer großen gefährlichen Welt, und es nicht zulässt, dass jüdisches Blut wie Wasser vergossen wird.
Millionen Bewohner im Süden Israels kauerten zu Hause oder blieben in der Nähe ihrer Wohnungen und Häuser. Die Behörden hatten dazu aufgerufen, dass die Menschen sich nahe der öffentlichen Schutzräume aufhalten sollten, während Hunderte Raketen auf ihre Städte fielen.
Es gibt nur einen Präzedenzfall, bei dem eine moderne Demokratie und die Zivilbevölkerung von Raketen beschossen wurden. Am Nachmittag des 7. September 1940 tauchten 348 Nazi-Bomber am Himmel über London auf. In den darauffolgenden zwei Monaten wurde London Tag und Nacht bombardiert. Viele Stadtteile wurden vom Feuer zerstört.
Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen diesen beiden historischen Situationen. Winston Churchills Antwort war bestimmt und resolut. Er gab damals bekannt: »Wir werden bis zum Ende gehen. (…) Wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden auf dem Boden kämpfen, wir werden auf den Feldern und in den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen – wir werden niemals kapitulieren!«
zurückhaltung In Israel haben wir bedauerlicherweise Zurückhaltung gezeigt, zu unserem Leidwesen. Wir haben die Hamas niemals wirklich besiegt. Wir haben Gaza im Sommer 2005 verlassen, in dem naiven Glauben, dass es Frieden geben würde. Doch was geschah am Tag darauf? Anstatt sich an die Arbeit zu machen und eine Gesellschaft aufzubauen, haben sie sich wieder daran gemacht, so viele Juden wie möglich zu ermorden – und es begann der tagtägliche Beschuss mit Raketen. Auch die Militäroperation 2009 brachte nur eine vorübergehende Ruhe.
So wie Jakob haben auch wir immer noch Angst, die Kleidung Esaus anzuziehen. Das spricht für uns: Wir verabscheuen Gewalt und sehnen uns nach Frieden. Aber es ist zu unserem Leidwesen, weil unser Feind den Krieg und das Blutvergießen liebt und glorifiziert. Unser Feind betrachtet unsere Zurückhaltung als Schwäche und als Aufforderung zu weiterem Terror und Krieg. Es gibt nur einen Weg, wie Israel mit seinen Feinden umgehen kann.
Heute stehen wir mit allen Menschen Israels, standhaft, entschlossen und mit Energie, und wir beten, dass Jakob den Mut haben wird, weiterhin die Kleidung Esaus zu tragen, bis der Terror ein Ende hat. Und wir beten für den Tag, an dem Jakob endlich Esaus Kleidung für immer ablegen kann, für den Tag, an dem Frieden und Mitgefühl unsere Welt regieren werden, mit der Ankunft des Moschiach.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Direktor der Jüdischen Bildungszentrums Berlin.