Die Beschneidung, die in unserer jüdischen Tradition so zentral und wichtig ist, war immer eine Kontroverse zwischen Judentum und Christentum. Spätestens seit Paulus gilt die Beschneidung als einer der Riten, die scheinbar nicht mehr gültig sind.
Dabei ist es gerade Paulus, der von den Juden weiterhin erwartet, sich beschneiden zu lassen und generell den Geboten der Tora zu folgen. In der Apostelgeschichte (15,1) heißt es explizit: »Und einige kamen herab von Judäa und lehrten die Brüder: Wenn ihr euch nicht beschneiden lasst nach der Ordnung des Mose, könnt ihr nicht selig werden.«
Andererseits sollen aber Nichtjuden, die Jesus als ihren Messias annehmen, nicht beschnitten werden, denn sie sollen – nach Paulus – nicht zum Judentum konvertieren, sondern nur die ethischen Grundlagen des Judentums (die sieben Noachidischen Gebote) annehmen. Dass eine »Beschneidung des Herzens« und der Glaube ganz grundsätzlich die Pflicht der Beschneidung aufheben, ist so bei Paulus nicht zu lesen.
WEIN Eine weitere Verbundenheit der Beschneidung und des christlichen Ritus ist der Wein, der auch das »Blut der Trauben« (1. Buch Mose 49,11) genannt wird. Diese jüdische Symbolik aus der Tora spielt in der christlichen Eucharistie eine zentrale Rolle, wie bei Markus (14,24), wo der Wein das »Blut des Bundes« genannt wird.
Bis 1960 wurde in der katholischen Kirche am 1. Januar der »Tag der Beschneidung« gefeiert.
Eines ist jedenfalls klar: Jesus war als gläubiger Jude seiner Zeit natürlich beschnitten. Die Beschneidung Jesu ist bei Lukas beschrieben. Lukas versucht, mit der Geburtsgeschichte Jesu eine Verbindung zwischen dem Tanach (der Hebräischen Bibel) und dem Neuen Testament herzustellen, Jesus also in der jüdischen Tradition zu verankern.
Dazu passt die Verkündigung der Geburt Jesu durch einen Engel an Maria, in der es heißt: »Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben« (Lukas 1, 30–33).
Auch wenn zur Zeit Lukas’ schon klar ist, dass die allermeisten Juden nicht an Jesus als ihren Messias glauben und auch eine baldige Wiederkunft Jesu offensichtlich nicht erfolgte, so versucht der Autor dieses Evangeliums, die davidische Messiaserwartung (vgl. 2. Buch Samuel 7,12) als erfüllt darzustellen. In jedem Fall wird Jesus in der Beschreibung von Lukas in eine jüdisch observante Familie hineingeboren, die alle rituellen Gebote einhält, beispielsweise auch den Tempel besucht und Pessach feiert.
NAME Dazu passt natürlich entsprechend auch die Beschneidung Jesu (Lukas 2,21): »Und als acht Tage um waren und er beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, welcher genannt war von dem Engel, ehe er im Mutterleib empfangen war.«
Gemäß der jüdischen Tradition wurde das Baby am achten Tag beschnitten und erhält mit der Beschneidung den Namen Jesus (den der Engel bereits bei der Ankündigung der Geburt vorgegeben hatte), abgeleitet von dem hebräischen Namen Jehoschua, was im Neuen Testament mit »der Herr rettet« übersetzt wird (Matthäus 1,21) und im Tanach (in diversen Varianten, beispielsweise Hoschea) sowie in späterer Zeit ein häufiger Name war.
Danach wird die Pidjon Ha-Ben, die »Auslösung des Erstgeborenen« (2. Buch Mose 13,2 und 12,15; 4. Buch Mose 18, 15–16; Nechemia 10, 36–37), beschrieben und später die starke Verbundenheit Jesu und seiner Familie zu den Geboten der Tora, zu Jerusalem und zum Tempel.
Das »Sanctum Praeputium Domini«, die heilige Vorhaut Jesu, war eine kirchliche Reliquie.
Das Bewusstsein für diese große Verbundenheit verblasste aber im Laufe der Zeit im Christentum. Anfangs wurde Jesus in zahlreichen Gemälden, Skulpturen und Manuskripten als beschnitten dargestellt. Im Mittelalter wurde das »Sanctum Praeputium Domini«, die heilige Vorhaut Jesu, noch in vielen westeuropäischen Kirchen als Reliquie verehrt, zum Beispiel in Antwerpen, in Frankreich oder auch in Santiago de Compostela. Doch durch die Umwidmung des Beschneidungsrituals zur Taufe im Christentum ging die Bedeutung der Beschneidung sukzessive verloren.
PREDIGTEN In der katholischen Kirche wurde der Tag der Beschneidung am 1. Januar noch bis 1960 gefeiert. In lutherischen Feiertagskalendern ist der 1. Januar, der achte Tag nach Weihnachten, noch immer als »Tag der Beschneidung und Namensgebung Jesu« zu finden. Der zugehörige Bibeltext wird aber kaum noch in evangelischen Kirchen gelesen, und Predigten, die sich auch thematisch damit befassen, gibt es praktisch nicht mehr.
Dabei sollten Christinnen und Christen eines nicht vergessen: Die christliche Jahreszählung beginnt nicht etwa mit Ostern, der Auferstehung Jesu, oder Weihnachten, der Geburt Jesu, sondern mit dem 1. Januar, also der Beschneidung Jesu. Denn erst durch die Brit Mila, den Bund der Beschneidung, konnte er die Rolle, die ihm nach christlichem Verständnis zugeschrieben wird, überhaupt annehmen.
Der Autor ist Mitteleuropa-Direktor des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation sowie Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).