An diesem Schabbat beginnen wir erneut die Lesung der Tora aus Bereschit, dem 1. Buch Mose. Weil die Schöpfungsgeschichte einen beträchtlichen Teil dieser Lektüre bildet, wurden die Rabbinen gefragt: Warum beginnt die Tora mit der Erzählung von der Erschaffung der Welt? Sie will doch kein Geschichtsbuch sein, sondern verkündet uns unsere »Verfassung«. Warum beginnt sie nicht mit der g’ttlichen Gesetzgebung für die Israeliten?
In einer frühmittelalterlichen Exegese finden wir folgende Antwort: »Wenn euch eines Tages die Völker der Welt bezichtigen werden: ›Ihr seid Landräuber, da ihr das Land der sieben kanaanäischen Völker besetzt habt‹, dann sollt ihr ihnen antworten können: ›Der Herr ist Schöpfer Seiner Welt. Er schenkt es nach Seinem Willen! Er gab es den Völkern, und Er nahm es auch von ihnen und gab es uns!‹«
MOHAMMED Diese Aussage hat der volkstümliche Bibelkommentator Raschi in sein Werk aufgenommen – ohne jedoch irgendeine aktuelle politische Lage im Blick zu haben. Zu seiner Zeit, im elften Jahrhundert in Worms, hatte noch kein Papst den Kreuzzug der Christen gegen Jerusalem verkündet.
Kurz nach dem Tod Mohammeds, des Religionsstifters des Islam, hatten zwar dessen Anhänger im Jahre 640 bereits das Heilige Land, Damaskus und Mesopotamien erobert – doch zeigten sie kein größeres Interesse an den heiligen Stätten der Juden. Folglich war die Betonung der g’ttlichen Besitzrechte der Israeliten auf das Heilige Land in dieser exegetischen Schrift rein religiöser Natur, vornehmlich aufgrund ihrer starken Unterdrückung durch die christlichen Herrscher in Europa.
Der Historiker und Islamwissenschaftler Bernard Lewis (1916–2018) schreibt: »In früheren Zeiten weigerten sich muslimische Theologen und Rechtsgelehrte, Jerusalem als Heilige Stadt anzunehmen. Sie betrachteten sie als ›einen judaisierenden Irrtum‹, als einen ›Versuch jüdischer Konvertiten‹, den Islam mit jüdischen Ideen oder Praktiken zu ›infiltrieren.‹«
Lewis zitiert den bedeutenden arabischen Gelehrten und Historiker Abu Dscha’far Muhammad ibn Dscharir at-Tabari (839–923). Dieser erzählt von dem Besuch des Kalifen Omar (592–644), nach dem die Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg benannt ist, in der gerade eroberten Stadt. Der Kalif fragte K’ab al-Akbar, einen zum Islam übergetretenen Juden: »Wo, meinst du, sollten wir die Gebetsstätte errichten?« – »Am Felsen«, antwortete Ka’b.
Einem Bericht zufolge habe K’ab al-Akbar versucht, den Kalifen dazu zu bringen, den Gebetsplatz im hinteren Teil des Tempelbergs einzurichten, sodass die Muslime beim Gebet nach Mekka auch zum Felsen hin gebetet hätten. »Bei Allah«, sprach Omar, »du folgst dem Judentum? Doch nein, unser Gebot, ein Heiligtum zu errichten, galt nicht dem Felsen in Jerusalem, es lautet vielmehr, wir sollten uns zur Kaaba (in der Stadt Mekka) wenden.«
Selbst wenn andere Gelehrte diese Episode als frei erfunden bezeichnen würden, steht doch fest, dass für alle Muslime ausschließlich Mekka in Saudi-Arabien die Gebetsrichtung bestimmt und Ziel ihrer Pilgerfahrt ist.
SCHÖPFUNG Der Schöpfungsbericht im 1. Buch Mose weist dem Menschen den Platz in seiner Welt. Ist er ein Teil der Natur, als Kreatur selbst eingewoben, oder ist er ein Herausgefallener aus der Schöpfungsordnung? Das fragt der bekannte christliche Theologe Eugen Drewermann.
Anders sahen die Rabbinen des Talmuds die Erschaffung des Menschen: »Nur einen einzigen Menschen, Adam, schuf G’tt« – aus dem Staub der Erde (hebräisch: Adama) –, damit nicht eines Tages die späteren Geschlechter wetteifern könnten, wer denn nach seiner Abstammung als vornehmer und feiner gelten solle (Talmud Sanhedrin 37a).
An anderer Stelle lernen wir von unseren Weisen: »Ein jeder Mensch tritt gleichermaßen aus dem Mutterleib hervor und verlässt diese Welt auch auf dieselbe Weise wie alle anderen Menschen.«
Sind das die einzigen Lehren, die wir aus der Erschaffung des Menschen ziehen können? Eine Warnung vor jeglichen Bestrebungen nach einer Hierarchie? Oder lernen wir eher etwas über die Einheit und Gleichheit des gesamten Menschengeschlechts? G’tt will den Menschen als Sein Ebenbild formen. Heißt das, wie Eugen Drewermann vermutet, dass er herrschen soll über die Welt? Wir Juden sehen es anders. Für uns steht die Ebenbildlichkeit nicht als einzige Verheißung und Offenbarung.
HEILIGKEIT »Heilig ist der Ewige, und Seine Herrlichkeit erfüllt die Erde«, sagte der Prophet Jeschajahu (6,3). Das 3. Buch Mose, Wajikra, offenbart dem Menschen: »Heilig sollt auch ihr werden, weil Ich, der Ewige, euer G’tt, heilig bin« (19,2).
Wir sehen diese Verheißungen in einem Kontext: Wenn der Mensch als Ebenbild G’ttes erschaffen wurde, so muss er nach Heiligkeit streben. Die vermeintlichen Widersprüche blieben uns nicht verborgen: Kann der Mensch überhaupt neben G’tt heilig werden?
Dieses Paradox bildet die Grundlage jüdischen Denkens: Die Ebenbildlichkeit G’ttes als Gnadenakt bietet uns die Möglichkeit, von Seinem Willen und Seinen Bestrebungen geleitet zu werden und somit g’ttähnlich zu handeln.
Ist dies wahrhaftig zu verwirklichen? Wohl kaum. Und dennoch soll dies als ideelle Zielsetzung unsere Handlungen leiten, als Sinn des Lebens. Aus der Erschaffung des Menschen lernen wir, dass das jüdische Dasein eine ewige Aufgabe ist: nach der Heiligkeit G’ttes zu streben.
Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.
inhalt
Mit dem Wochenabschnitt Bereschit fängt ein neuer Jahreszyklus an. Die Tora beginnt mit zwei Berichten über die Erschaffung der Welt. Aus dem Staub der aus dem Nichts erschaffenen Welt formt der Ewige den Menschen und setzt ihn in den Garten Eden. Adam und Chawa wird verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der inmitten des Gartens steht. Doch weil sie – verführt von der Schlange – dennoch eine Frucht vom Baum essen, weist sie der Ewige aus dem Garten. Draußen werden ihnen zwei Söhne geboren: die Brüder Kajin und Hewel. Der Ältere, Kajin, tötet seinen Bruder Hewel.
1. Buch Mose 1,1 – 6,8