Bald nach Kriegsende gab die amerikanische Militärregierung für ihre Zone (Office of Military Government for Germany) eine wichtige Statistik in Auftrag. Von diesen Indizien erwarteten die Sieger Ansätze für ihren neuen Auftrag: die Besiegten zu regieren, das Vorhaben von »Re-Education« und Demokratisierung zu bewerkstelligen.
Dieser in Zahlen gegossenen Gräberstimmung lässt sich bei genauem Hinschauen etwas Lebendiges abringen. Eine sonst zahlenmäßig vernachlässigbare Größe wirkt darin wie versteckt – eine absolute Ausnahme.
dp-camps Denn im gerade untergegangenen deutschen Reich widersetzten sich einige wenige der Totenstimmung – indem sie vor Leben nur so strotzten: Menschen in DP-Camps. Das bunte Treiben an diesen wenigen Orten mit ihren Schulen, Theatern, Konzerten und Bibliotheken wurde zahlenmäßig belegt. Besonders auffällig: die hohe Geburtenrate. In den DP-Camps wurde eine Hochzeit nach der anderen gefeiert.
Wer als Kind die Welt etwa im DP-Camp Föhrenwald erlebte, sagt bis heute: Es war eine schöne Zeit.
Wer als Kind die Welt etwa im DP-Camp Föhrenwald erlebte, sagt bis heute: Es war eine schöne Zeit. Die gleichaltrigen Kinder der Welt um sie herum dagegen lernten zu jammern, meistens über die Entbehrungen der Nachkriegszeit.
Und heute jammern sie nicht selten auch über die aktuelle Krise. Es ist ihnen nachzusehen, denn sie sind in einer miesen Stimmung aufgewachsen, eine, welche sie die Entbehrungen der Nachkriegszeit ein Leben lang spüren ließ. Schließlich jammerten auch die Eltern, die das Kriegsende zumeist als Niederlage empfanden, nicht selten gar auch als Erniedrigung.
opfer Umgekehrt sind die Kinder der DPs wohl in einer gegensätzlichen Stimmung aufgewachsen. Ihre Eltern waren schwersttraumatisiert und vielleicht gerade deswegen bemüht, sich nie wieder als Opfer zu betrachten. So schufen sie eine Stimmung, die den Kindern bis heute als ihre schönste Zeit in Erinnerung bleibt und sie nachhaltig prägte.
Viktor Frankl nannte diesen Vorgang »Re-Framing«: eine neue Umrahmung der Lebenseinstellung. Er selbst, der Auschwitz überlebt hat, beteuerte stets, er hätte sonst nicht weiterleben können – wie andere Überlebende auch.
Das ist das Vermächtnis dieser Gründergeneration. Von ihr treten nun die Allerletzten ab. Nun ist es an uns, ihr Vermächtnis weiterzugeben. Es ist dies die Stimmung des Aufbruchs, des Lebens – wo sonst gerade jetzt in der Krise gejammert wird. Was ist das für eine Krise – im Vergleich zu dem, was unsere Eltern und Großeltern erleiden mussten? Eine chassidische Weisheit lautet: Glücklich die Generation, die gesegnet ist mit Vorbildern.
»Naches« macht zwar glücklich, ist aber etwas anderes als Glück.
vorbild So ein Vorbild ist Siegmund Freund, der dieser Tage in Frankfurt 100 Jahre alt wurde. Als Jugendlicher überlebte er vom Gefängnis über Zwangsarbeit und KZ bis zum Todesmarsch »das ganze Festprogramm«, wie er polemisch sagt. Und mein eigener Vater pflegte mit einem ähnlich ironischen Unterton sein Überleben als »Fehler einer perfekten Maschine« zu bezeichnen. Beide haben einen beißenden Humor entwickelt, der ihnen zur zweiten Haut wurde – oder eher zum Panzer.
Ähnlich wuchs auch Trude Simonsohn eine Panzerung zu: durch ihre erklärte Einstellung, den Hass auf ihre Peiniger und die Wut nicht etwa zu verdrängen, sondern dort zu lassen, wo sie sich als lebenswichtig erwiesen – im Konzentrationslager. Aus dem KZ gerettet, war auch die Ohnmacht weg, waren Hass und Wut nicht mehr lebenswichtig. Mit diesem »Re-Framing« ist sie inzwischen 99 Jahre alt geworden.
Ihnen gemeinsam ist das Streben nach Naches, was nicht vergleichbar ist mit dem Streben nach Glück. Streben nach Glück mag in der Verfassung der USA als unveräußerliches Recht verbrieft sein. Naches dagegen ist nirgendwo verbrieft und folglich nicht einklagbar. Naches macht zwar glücklich, ist aber etwas anderes als Glück. Als Schlüssel zum Glück lässt es sich nicht beschreiben – nur erleben.
verfolgung Und wenn es ein Naches-Museum geben würde, wäre tragisch dabei, dass im jüdischen Kontext die Erfahrungen der Verfolgung sich nicht ganz davon trennen lassen. Die Sehnsucht nach Naches wird dann zur Triebfeder zum Leben, zum Trotz gegen Tod und Trauer.
Unsere Eltern- und Großelterngeneration darf als die heldenhafteste aller Zeiten gelten.
Es darf sich in die Trauer also immer auch Trost mischen. Unsere Eltern- und Großelterngeneration darf als die heldenhafteste aller Zeiten gelten. Ihr Vermächtnis ist klar: Es gibt trotz millionenfachem Tod keine Alternative zum Leben, und daraus ist das Beste zu machen. Wenn sie das geschafft haben – und das haben sie, trotz der allerwidrigsten Umstände, die es in der Menschheitsgeschichte gab –, dann schaffen wir das doch auch.
Denken wir daran: Was unsere Eltern und Großeltern erlebt und überlebt haben, ist der absolute Tiefpunkt jahrtausendealter Verfolgung. Sie haben uns eine Stimmung der Liebe, der Zuversicht und der Kreativität geboten, die jede Entbehrung in schwerster Zeit mehr als aufzuwiegen vermochte. Dafür hatten sie an uns ihren Naches, wonach sie sich so sehr gesehnt haben.
Wenn wir wiederum nun Naches von unseren Kindern haben, wissen wir, wem wir das zu verdanken haben. Das ist im besten Sinn jüdische Tradition. Da darf ruhig etwas Freude aufkommen, und Stolz auf unsere Eltern und Großeltern. Auch das ist Naches.
Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt am Main.