Unser Abschnitt erzählt davon, wie sich Mosche an die Kinder Israels wendet und ihnen eröffnet: »Ich bin heute 120 Jahre alt, ich kann nicht mehr aus- und eingehen. Dazu hat der Ewige zu mir gesagt: Den Jordan hier sollst du nicht überschreiten« (5. Buch Mose 31,2).
Es ist ein außergewöhnlicher Moment, der uns hier geschildert wird. Mosche tritt in eigener Sache vor das Volk. Er informiert es über seinen nahenden Tod und bereitet die Amtsübergabe an seinen Nachfolger Jehoschua vor. Auch hat er die Stärkung der Kinder Israels angesichts bevorstehender Kriege im Blick.
Mosche sagt von sich, er könne »nicht mehr aus- und eingehen«. Was meint er damit? Raschi (1040–1105) antwortet, dass sich ihm die Quellen der Weisheit verschlossen hatten (Sota 13,2). Die kabbalistische Interpretation spricht davon, dass es Mosche nicht mehr möglich war, in die oberen Welten zu gelangen und dem Volk die himmlischen Visionen zu vermitteln. Die mystische Schau sei ihm verstellt.
Schechina Jahrzehntelang war Mosche mit der oberen, unsichtbaren Welt verbunden gewesen und leitete dementsprechend das Volk. Er vermittelte zwischen Glauben und Unglauben, zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt. Mit seinem Dienst verbinden sich die beiden Ausdrücke »lazet el« (»geben«) und »lawo el« (»empfangen, bekommen«). Mosche ging zu seinen Brüdern, zum Volk Israel in Ägypten, und kam zur Stiftshütte, in der Gottes Geist wohnt. Dort hat er das Licht der Schechina empfangen. Als er wieder herausging, diente er dem Volk mit seiner Leitung.
Vermutlich hatte Mosche ein außergewöhnlich hohes spirituelles Niveau erreicht. Dem durchschnittlichen Menschen bleiben die Quellen der Weisheit verschlossen, doch Mosche waren sie aufgetan, sodass er das Volk anführen konnte. Warum ist es ihm nun nicht mehr möglich?
JORDAN Rabbi Sforno (1475–1550) bemerkt dazu: »Selbst wenn Mosche ausgehen, seinen Leitungsdienst weiter versehen könnte, hat Gott ihm eine Grenze gesetzt und erklärt, dass er den Jordan nicht überqueren kann. Es ist für das Volk besser, dass Mosche stirbt, damit es den Kindern Israels gelingt, über den Jordan zu kommen.«
Der Jordan ist eine entscheidende Wegmarke. Wenn sie ihn überschreiten, beginnt die Landnahme. So wie der Jordan fließt, vom Norden, vom See Genezareth Richtung Süden, zum Toten Meer, so sollen sie den Weg ins gelobte Land nehmen. Das aber wird ihnen nicht in den Schoß fallen. Sie werden es nur unter schweren kriegerischen Auseinandersetzungen einnehmen können. Sie werden töten müssen und getötet werden, Eroberungen sind zu bewerkstelligen, Beute werden sie machen.
Nun kündigen sich andere Zeiten an als die, die sie in der Wüste erlebt haben. Dort wurden sie 40 Jahre lang auf wunderbare Weise geführt und versorgt: Manna und Wachteln fielen vom Himmel. Nun müssen sie selbst kämpfen. Um dabei nicht mutlos zu werden, dürfen sie den Glauben an Gott nicht verlieren. Das Gottvertrauen wird ihnen die Kraft verleihen, um unter den Bedingungen des neuen Lebens zu bestehen. Dementsprechend bestärkt Mosche seinen Nachfolger Jehoschua: »Sei getrost und unverzagt; denn du wirst mit diesem Volk in das Land gehen, das der Ewige ihren Vätern geschworen hat, ihnen zu geben« (5. Buch Mose 31,6).
Die Begriffe »getrost« und »unverzagt« beschreiben die Stärke und den Mut, den man braucht, um die schwierigen Situationen der natürlichen Welt anzugehen. Nur stark zu sein, ist nicht genug, und nur mutig zu sein, ist auch nicht genug. In der Verbindung beider Eigenschaften liegt die Kraft, einen Sieg zu erringen. Wir sehen im Vergleich mit der Situation der Israeliten in der Wüste, wo sie nur aus dem Glauben an Gott existierten, dass es nun darauf ankommt, dass sich der Glaube unter natürlichen Bedingungen bewährt.
TUN Wir kennen nur zu gut diese Situation, in der wir »vor dem Jordan stehen und ihn überqueren müssen«. Wir sind gerufen, von der Stufe des Glaubens den Aufstieg auf die Stufe des Tuns zu wagen. In diesem Moment erleben wir uns wie im Abenteuer einer Vision, eines Plans, das unserem Leben ein Ziel gibt.
In der natürlichen, materiellen Welt haben wir viele Prüfungen zu bestehen. Sie lassen uns erfahren, dass wir aus- und eingehen, aus dem Glauben heraus unser Leben führen und bewältigen.
Mosche war die Leitfigur unserer Seele. Er hat uns aus dem schweren Sklavenjoch der Ägypter befreit und führt uns zum neuen Leben, das unseren Visionen und Wünschen entspricht. Am Ufer des Jordans kommt Mosche ans Ende seines Dienstes für uns. Hier ist ihm eine natürliche Grenze gesetzt. Wir aber müssen den Weg des Glaubens in der Auseinandersetzung mit unseren natürlichen Grenzen und Prüfungen fortsetzen. Wir sollen immer wieder »eingehen«, also unsere Seele stärken, und »herausgehen«, also den Glauben an Gott realisieren, damit wir in der Zukunft unsere Angst vor zu erwartenden Schwierigkeiten beherrschen können.
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Mosche erreicht sein 120. Lebensjahr und bereitet die Israeliten auf seinen baldigen Tod vor. Er verkündet, dass Jehoschua sein Nachfolger sein wird. Die Parascha erwähnt eine Mizwa: In jedem siebten Jahr sollen sich alle Männer, Frauen und Kinder im Tempel in Jerusalem versammeln, um aus dem Mund des Königs Passagen aus der Tora zu hören. Mosche unterrichtet die Ältesten und die Priester von der Wichtigkeit der Toralesung und warnt sie erneut vor Götzendienst.
5. Buch Mose 31, 1–30
Wajelech