Herr Stein, reden wir über Religion.
Gern. Was wollen Sie wissen?
Sie sind in der DDR aufgewachsen und haben erst mit 16 Ihre jüdische Identität entdeckt. Vor zehn Jahren dann haben Sie sich dem orthodoxen Judentum zugewandt. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
In dem Buch, an dem ich im Moment schreibe, gibt es einen Satz, der es vielleicht am Besten trifft: Wer mit Engeln verkehrt, ist ihnen in der Regel auf einem Ausweg begegnet.
Der Glaube war Ihnen eine Rettung?
Eher eine völlig andere Art, die Welt und sich selbst in ihr zu sehen. Ich habe mich aus einer großen Leere gerettet, indem ich diesen Weg gegangen bin, als Mensch und – wie sich sehr viel später gezeigt hat – auch als Künstler. Was meine Hinwendung zur Orthodoxie betrifft: Ich war zu jener Zeit über Schabbes in Zürich zu Gast bei einer Familie. Dieser Besuch war meine erste tatsächliche Berührung mit der Orthodoxie. Bis dahin hatte ich aus Ignoranz eine Art Feindbild gepflegt. Orthodox, hätte ich damals behauptet, heißt, in der Vergangenheit zu leben und die Augen vor der Moderne zu verschließen.
Nun ist es mit Feindbildern meist so, dass sie zu bröckeln anfangen, sobald man den »Feind« persönlich kennenlernt.
So war es auch hier. Der Gastgeber arbeitete in leitender Position für ein Technologie-Unternehmen und brachte, da seine Frau kurz zuvor verstorben war, seine Kinder allein durch. Das Gespräch mit ihm hat mich sehr ins Grübeln gebracht. Mit schreckgeweiteten Augen saßen die Kinder am Tisch, während ich ihrem Vater gegenüber Argument um Argument bemühte, warum Orthodoxie für mich keine Option sei.
Was entgegnete er Ihnen?
Er antwortete auf jeden Einwand mit dem gleichen Satz: »Aber das ist doch gar kein Problem!«
Alle 613 Mitzwot einzuhalten - kein Problem? Die meisten Menschen scheitern schon an den Zehn Geboten.
Vielen gelingt es. Und es kommt auf einen Versuch an. Man muss es wollen. Das einzige echte Problem liegt bei einem selbst.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe damals die Frau kennengelernt, die ich heiraten und mit der ich Kinder haben wollte. Und als ich zum ersten Mal in meinem Leben über eigene Kinder nachdachte, habe ich mir gewünscht, dass sie mit einem solchen jüdischen Selbstverständnis groß werden sollen, wie ich es bei meiner Gastfamilie in Zürich erlebt hatte. Also musste ich meine Widerstände überwinden.
Fiel es Ihnen schwer, Ernst zu machen mit dem orthodoxen Judentum?
Es war eine Zeit gravierender Veränderungen und intensiver emotionaler Erfahrungen, aber letztendlich war dann doch alles »kein Problem«. Man kann Traditionen nur weitergeben, wenn man sie selbst ernst nimmt. Und das will ich. Ein weiser Mann hat einmal gesagt: »Jüdisch ist, wer jüdische Enkel hat.« Über diesen Satz nachzudenken, lohnt sich.
Sie sind Journalist sowie Korrespondent diverser Computer-Zeitschriften gewesen und leben heute orthodox als IT-Berater und Autor. Wie passt das zusammen?
Das »Sefer Yezira«, ein sehr altes, sehr jüdisches Buch, beginnt mit der Feststellung, Gott habe die Welt erschaffen mit drei Dingen: Buchstabe (sefer), Zahl (sefar) und Rede (sippur). Vor diesem Hintergrund ist alles, was ich in meinem Leben getan habe, nur folgerichtig. Ich arbeite mit Worten und erschaffe etwas Neues, sei es nun ein Gedicht, ein Roman oder ein Softwaresystem.
Anders als die »Zeit« behauptet, sind Sie also mitnichten der Punker unter den Orthodoxen?
Ein Punker bin ich gewiss nicht. Ich bin Mystiker, und die haben und hatten in allen Religionen und zu allen Zeiten einen »Hang zum Ungewissen«. Das ist ein ungeheurer Antrieb, aber es bedeutet auch, immer ein wenig am Rand zu stehen - in welcher Gesellschaft man sich auch bewegt.
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Benjamin Stein wurde 1970 in Berlin (Ost) geboren. Nach dem Abitur arbeitete er bis zur Wende 1989 als Nachtpförtner in einem Altenheim, später studierte er Judaistik und Hebraistik. Seit 1982 veröffentlicht er Lyrik und Kurzprosa. Sein erster Roman »Das Alphabet des Juda Liva« erschien 1995 im Ammann Verlag und wurde von der Literaturkritik begeistert aufgenommen. Im Anschluss an die Buchveröffentlichung war er als Redakteur und Korrespondent diverser deutscher und amerikanischer Computerzeitschriften tätig. Seit 1998 ist er Unternehmensberater für Informationstechnologie. Im Dezember 2010 wurde er für seinen Roman »Die Leinwand« mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet. Benjamin Stein ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in München.