Dayan Ehrentreu, Sie sind Jahrgang 1932 und haben als Kind in Frankfurt am Main die Pogromnacht am 9. November 1938 erlebt. Woran können Sie sich erinnern?
Schauen Sie, ich war ein kleiner Junge. Aber ich kann mich lebhaft an die brennende Synagoge an diesem Abend erinnern. Ich sehe auch immer noch vor meinen Augen, dass die Deutschen die Sifrei Tora, die Torarollen, in den Hof gebracht und dort verbrannt haben. Ich erinnere mich an das Feuer, das in der Dunkelheit in die Höhe loderte.
Haben Sie das von außerhalb der Synagoge gesehen?
Nein, ich bin hinunter in den Hof gegangen. Mein Vater war Rabbiner in Frankfurt.
In welcher Synagoge?
Er ging in die Breuer-Synagoge. Aber er hat dort nicht als Rabbiner gearbeitet, er war Rosch Jeschiwa und hat in der Breuer-Jeschiwa unterrichtet. Als die Deutschen die Sifrei Tora geholt haben, hat er es geschafft, eine Sefer Tora aus dem Haufen herauszunehmen. Die Deutschen haben ihn dabei erwischt, und sie wollten ihn schon erschießen. Einer der Baale Batim der Gemeinde behauptete aber, mein Vater sei ein Polizist oder Gestapo-Mann, und er sagte dem Deutschen: »Legen Sie sofort die Waffe weg, und lassen Sie diesen Mann in Ruhe!« Der Name des Baal Beit war Kahn. Er lebte später in London. Meinem Vater gelang es, die Sefer Tora beiseitezuschaffen. Aber ich bezweifle, dass die Torarolle mit nach England kam. Ich vermute, sie ist in Deutschland geblieben.
Hat es große symbolische Bedeutung für Sie, dass Ihr Vater versucht hat, eine Torarolle zu retten?
Die Wahrheit ist: Als er die Torarolle nahm und der Gestapomann auf ihn zukam, in diesem Moment war ich nicht dort. Mein Vater hat mir das später erzählt.
Sie waren zu Beginn des Pogroms also noch nicht in der Synagoge?
Nein, wir waren zu Hause. Aber mein Vater ging in die Synagoge, als es anfing, weil er die Sifrei Tora holen wollte. Und mein Bruder und ich gingen mit ihm. Es war kein Problem, sich dort eine Sefer Tora zu nehmen – es gab Hunderte von ihnen. Das Problem war, sie aus der Schul herauszubringen. Retten konnten wir sie nicht. Wir hatten Glück, dass wir uns selbst retten und Deutschland verlassen konnten.
Haben Sie in Frankfurt in der Nähe der Synagoge gelebt?
Ja, wir haben in der Uhlandstraße gewohnt. Ich glaube, das war ganz in der Nähe der Schul.
Ist Ihr Bruder älter oder jünger als Sie?
Er war älter, er lebt nicht mehr.
Wie haben Sie sich an diesem Abend gefühlt?
Ich habe sehr große Angst gehabt. Die Kinder hatten Angst, die Mütter hatten Angst. Alle hatten Angst.
Wurden Menschen festgenommen?
Sie haben schon vorher Menschen festgenommen. Mein Vater wurde in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Wir konnten Deutschland erst verlassen, als er wieder aus dem KZ entlassen wurde. Das war nach der »Kristallnacht«. Und er kam frei, weil er genug Geld bezahlen konnte – genauer gesagt, wir hatten einen Onkel in England, der für ihn bezahlt hat.
Konnten Sie diesen Abend als Kind einordnen und verstehen, was da vor sich ging?
Ich war fünf Jahre alt, aber ich wusste, das war nicht in Ordnung.
Woran erinnern Sie sich noch?
Zu unserem Wohnhaus gehörte ein Hof. Die Gojim haben ihren ganzen Müll und Abfall über die Mauer in unseren Hof geworfen. Und ich glaube, sie haben das mit Absicht gemacht, weil sie wussten, dass in diesem Haus Juden lebten.
War das am Tag der Pogromnacht?
Etwa um diese Zeit.
Sind Sie selbst als Kind angegriffen worden?
Ich nicht. Aber als wir Deutschland verlassen haben und in den Zug gestiegen sind, hatten wir große Angst, dass die Gestapo uns nicht fahren lässt. Daran erinnere ich mich.
Ihr Vater war Rabbi wie Ihr Großvater …
Ja, mein Großvater war Oberrabbiner von München.
Wann haben Sie selbst beschlossen, Rabbiner zu werden?
Ich bin in England nach meinem Schulabschluss nicht an die Universität gegangen, sondern in eine Jeschiwa. Und dort habe ich den Entschluss gefasst, Rabbiner zu werden.
Und Ihre Kinder sind ebenfalls Rabbiner?
Ich habe fünf Kinder. Einer meiner Söhne lebt nicht mehr, der andere ist Rabbiner in Jerusalem. Er arbeitet am Beit Din. Und meine Schwiegersöhne sind auch alle Rabbiner.
Wo leben Ihre Schwiegersöhne?
Einer in Lakewood (in den USA), einer in Manchester und einer in London.
Die rabbinische Tradition in Ihrer Familie geht also weiter.
Baruch Haschem. Ich habe sogar Enkel, die Rabbiner sind. Ich habe auch viele Urenkel. Aber die sind noch keine Rabbiner, sie sind noch Teenager.
Sie sind vor Kurzem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. In Ihrer Rede haben Sie eine Geschichte von Rabbiner Chanina aus dem Schulchan Aruch erzählt. Können Sie diese Geschichte bitte noch einmal in Ihren Worten wiedergeben?
Rabbiner Chanina Ben Teradion war einer der zehn Märtyrer, die getötet wurden, weil sie jüdisch waren. Die Römer hatten den Rabbinern verboten, das jüdische Volk die Tora zu lehren. Aber Rabbiner Chanina hat weiter Tora unterrichtet, weil er daran glaubte, dass sie die Zukunft ist. Daraufhin nahmen sie ihn fest, wickelten eine Torarolle um seinen Körper und zündeten sie an. Und damit er langsam sterben und noch mehr leiden sollte, legten sie ihm nasse Wolle ums Herz. Seine Schüler fragten ihn, während er brannte, was er sah. Und er sagte: »Ich sehe das Pergament brennen, aber die Buchstaben fliegen hoch in die Luft.« Doch was war die Frage, und was war die Antwort? Man fragt doch einen Menschen, der leidet, nicht danach, was er sieht! Die Schüler sagten ihm in Wirklichkeit: »Wir können nur überleben, wenn wir Toralehrer haben. Und all die großen Lehrer sind ausgelöscht worden. Wie siehst du also unsere Zukunft? Wie können wir überleben?« Und Rabbiner Chanina Ben Teradion antwortete: »Das Pergament kann brennen, aber den Geist der Tora kann man nicht zerstören. Er wird immer existieren.«
Diese Geschichte passt für Sie zu Ihrer Erfahrung als Kind in der »Kristallnacht«?
Ja.
Hatten Sie in Ihrem Leben einen Moment, in dem Sie sich gefragt haben, warum Gott die Schoa zugelassen hat? Ist Ihr Glaube aus diesem Grund jemals ins Wanken geraten?
Es gibt bestimmte Dinge, die im Leben passieren und die wir möglicherweise nicht verstehen können. Aber unser Glaube ist, dass alles, was der Allmächtige tut, zum Besten ist. Auch wenn wir es nicht begreifen können. Ich erzähle Ihnen noch eine kleine Geschichte, und mit ihr möchte ich schließen.
Gern.
Es war einmal eine Gruppe von Menschen, die einen Handel abschließen wollten. Sie reisten dafür auf eine Insel. Die Reise dauerte mehrere Wochen und führte über ein gefährliches Meer. Als sie ankamen, brachten sie ihr Geschäft zum Abschluss und entschieden, wieder nach Hause zurückzukehren, weil sie genug Geld eingenommen hatten, um ihre Familien für ein bis zwei Jahre zu ernähren. Um zwölf Uhr sollte ihr Schiff abfahren. Doch dann wurde einer der Reisenden von einem Skorpion gebissen. Er konnte nicht mehr laufen und war gelähmt. Also schaute er aus der Ferne in den Hafen und sah, wie die anderen auf dem Schiff auf ihn warteten – eine halbe Stunde, eine Stunde, zwei Stunden. Er schrie, aber niemand hörte ihn, und das Schiff legte ohne ihn ab. Der Reisende wandte sich an den Allmächtigen und sagte: »Was habe ich getan? Warum bestrafst du mich? Ich bin ein guter, gläubiger, ehrlicher Mann.« Und er stritt mit dem Allmächtigen. Aber nach einer Woche hörte er, dass das Schiff in einem Sturm geraten und gesunken war. Niemand hatte überlebt. Also wandte er sich wieder an den Allmächtigen und sagte: »Danke, Allmächtiger, dass du den Skorpion geschickt hast, denn er hat mein Leben gerettet.« Manchmal passieren Dinge, und wir denken, dass die Welt über uns einstürzen wird. Aber in Wirklichkeit ist dies alles zu unserem Besten.
Mit dem Gründungsrektor und Dekan des Rabbinerseminars zu Berlin sprach Ayala Goldmann.