Zu Beginn von Franz Kafkas Prozess wird die Hauptfigur Josef K. eines Morgens damit konfrontiert, Angeklagter in einem Prozess zu sein. In unserem Wochenabschnitt muss sich auch Jakow mit »juristischen« Fragen auseinandersetzen, ohne dass er das geplant hatte. Warum?
In den meisten Übersetzungen heißt es (1. Buch Mose 31,36): »Und Jakow stritt mit Lawan.« Das Wort, das häufig mit »streiten« oder »hadern« übertragen wird, ist »wajarew«. Tatsächlich geht das Wort auf das Verb »riw« zurück, und dies kann »streiten« in dem Sinne bedeuten, dass man einen Prozess führt. Deshalb fährt Jakow in diesem Satz fort mit »Ma pischi – mah chatati?«. Was ist mein Verbrechen, was meine Sünde?
Die Weisen erklären im Talmud (Joma 36b) diese zwei Begriffe im Detail – bevor jemand auf die Idee kommt, sie seien synonym: Peschaim (hier als »Verbrechen« übersetzt) beziehe sich auf Sünden, die mit der besonderen Absicht der Rebellion und des Verrats begangen wurden. Der Begriff Chata’a schließlich bedeute unbeabsichtigte Verstöße gegen Gʼttes Gebote. Was nun folgt, ist eine regelrechte Verteidigungsrede Jakows.
Das Verhältnis zwischen Jakow und Lawan
Diese Szene hat eine Vorgeschichte, oder besser, sie hat Vorgeschichten – ungleich der Geschichte von Josef K., die plötzlich einsetzt. Die unmittelbare Vorgeschichte ist der Diebstahl von Lawans Terafim, kleinen Götzenfiguren, die zur Anbetung dienten. Tatsächlich hatte sie Jakows Frau Rachel gestohlen (31,19) und versteckt – ohne dass Jakow davon wusste. Die Tora spricht hier eindeutig von Diebstahl im rechtlichen Sinne.
Die längere Vorgeschichte ist das Verhältnis zwischen Jakow und Lawan. Er wollte weg von Lawan. Es war schlichtweg Zeit. Warum, erklärt er nachvollziehbar in Vers 41: »Ich bin jetzt 20 Jahre in deinem Haus: 14 Jahre habe ich dir für deine beiden Töchter gedient und sechs Jahre für deine Tiere, und doch hast du meinen Lohn zehnmal geändert.«
Dabei nennt Jakow nicht einmal die Tatsache, dass Lawan ihm nicht die Frau gegeben hat, für die er sieben Jahre in seinem Dienst stand. Wohl auch, um Lea zu schützen und sie nicht als »falsche« Frau bezeichnen zu müssen. Lawan spürt ihm nach und stellt ihn nach sieben Tagen. Wie der Kommentar »Haamek Dawar« anmerkt (Rabbiner Naftali Berlin, 1817–1893), versucht Lawan, sich als fürsorgender Vater darzustellen, bevor er auf seine Absichten zu sprechen kommt (31,26): »Du hast mein Herz gestohlen und meine Töchter weggeführt wie Kriegsgefangene.« Die Sprache ist derb.
Das Verb für »wegführen« (nahag) bezieht sich eigentlich auf das Wegführen von Vieh – es wiederholt den Beginn von Vers 18: »Und führte alle seine Herden hinweg und seine ganze Habe, die er erworben hatte.« Lawan wird das nicht zu Jakow gesagt haben, sondern zu seinen Leuten, die er mitnahm, um Jakow nachzujagen (Vers 23).
Lawan wollte vor seinen Leuten gut dastehen
Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) deutet die Tatsache, dass Lawan seine Leute bei sich hatte, als Hinweis darauf, dass er beabsichtigte, Jakow mit Gewalt zu stellen.
Nachdem Gʼtt in der Nacht zu ihm gesprochen hatte, nahm er Abstand davon. Jedenfalls werden Lawan und Jakow gewusst haben, dass nach 14 Jahren, in denen Jakow ein guter Ehemann war, der Vorwurf der Verschleppung aus der Luft gegriffen war. Aber Lawan wollte vor seinen Leuten gut dastehen. Erst dann kommt er auf die Terafim und die Flucht zu sprechen. Er nennt die Terafim hier »meine Götter«. Jakow bleibt gefasst und lädt Lawan ein, nach den Terafim zu suchen. Er findet sie nicht, da Rachel sie unter sich versteckt.
Erst jetzt, nachdem Lawan alle Punkte seiner »Anklage« vorgebracht hat und seine Terafim nicht finden konnte, verteidigt sich Jakow in einem regelrechten Plädoyer – wenngleich Vers 36 sagt, dass er äußerst aufgebracht war: »Und es brannte Jakow vor Wut« wäre die bessere Übertragung des Satzanfangs. Dennoch trägt er aber seine Punkte strukturiert und klar vor. Er erklärt: Wenn jemand bestohlen worden sei, dann er.
»Gʼtt hat mein Elend und meiner Hände Fleiß gesehen und gestern Nacht gerichtet«
Er verweist auf die vielen Male, die Lawan seinen Lohn geändert hatte. Sein Einsatz ging über das geforderte Mindestmaß hinaus (39): »Keine zerrissenen Tiere habe ich dir je gebracht. Ich würde den Verlust ausgleichen, bei meiner Hand würdest du es suchen, gestohlen bei Tag oder gestohlen bei Nacht.« Jakow hätte, auch nach den Gesetzen der Zeit, nur für das Vieh haften müssen, das er durch Unachtsamkeit verloren hätte. Er fährt fort: »So war ich: Tagsüber verzehrte mich die brennende Hitze und nachts die Kälte, und mein Schlaf entzog sich meinen Augen« (40). Wir sehen, die Wut brachte Jakow dazu, sich zu verteidigen, doch er tut es in aller Sachlichkeit.
Die Verteidigungsrede endet in Vers 42 mit einem Begriff aus der Rechtsprechung: »Gʼtt hat mein Elend und meiner Hände Fleiß gesehen und gestern Nacht gerichtet.« Der Richter an dieser Stelle ist nicht der anklagende Lawan selbst. Die ersten Hörer des Plädoyers sind die Schergen Lawans und die Familie Jakows. Der Richter ist Gʼtt. Und Gʼtt hatte die Sache bereits entschieden, als er zu Lawan in der Nacht zuvor sprach (31,24): »Hüte dich, zu Jakow zu sprechen, sei es Gutes oder Böses!«
Damit wird eine erzählerische Klammer geschlossen. Denn alles beginnt mit der Begegnung Riwkas, die eine Schwester Lawans war, mit dem Diener Awrahams (24,50). Hier sprechen Lawan und Betuʼel (der Vater von Lawan und Riwka): »Vom Ewigen ist die Sache ausgegangen; wir können dir weder Böses noch Gutes sagen.« Die Reihenfolge von »gut« und »böse« ist hier getauscht – ähnlich einer öffnenden und einer schließenden Klammer. Wenn Lawan die Entscheidung zu Beginn akzeptiert hat, muss er es auch hier tun.
Es geht ums Image
Die Verehrung der Terafim zeigt andererseits eine Entfernung von Gʼtt, der tatsächlich zu Lawan sprach und dessen Autorität er zuvor anerkannt hat. Er wird nun vorschlagen, einen Pakt zu schließen. Inhalt ist unter anderem die gute Behandlung seiner Töchter und erneut der haltlose indirekte Vorwurf der schlechten Behandlung. Lawan wird die Wahrheit gekannt haben, und deshalb ist jedes weitere Argument in dieser Sache nicht wirklich an Jakow gerichtet, sondern an seine Leute. Es geht um sein Image.
Ihm ist es wichtiger, vor ihnen gut dazustehen, als das Gericht anzuerkennen. Dieser Mechanismus ist bis heute bekannt: Auch wenn etwas juristisch entschieden wurde, bleibt manchmal der Vorwurf in der Welt – weil es jemandem nutzt. Vielleicht ist hier ein Satz hilfreich: »Hüte dich, darüber zu sprechen, sei es Gutes oder Böses!« Bei Kafka war es andersherum. Der Beschuldigte hat niemals erfahren, worum es eigentlich ging.
Der Autor ist Blogger und lebt in Gelsenkirchen.
inhalt
Der Wochenabschnitt Paraschat Wajeze erzählt von einem Traum Jakows. Darin sieht er eine Leiter, auf der Engel hinauf- und hinuntersteigen. In diesem Traum segnet der Ewige Jakow. Nachdem er erwacht ist, nennt Jakow den Ort Beit El. Um Rachel zu heiraten, muss er sieben Jahre für ihren Vater Lawan arbeiten. Doch der führt Jakow hinters Licht und gibt ihm Rachels Schwester Lea zur Frau. So muss Jakow weitere sieben Jahre arbeiten, bis er endlich Rachel bekommt.
1. Buch Mose 28,10 – 32,2