Eines der Themen im Toraabschnitt dieser Woche ist das Konzept der rituellen Reinheit (Tahara) und Unreinheit (Tumah): »Und G’tt redete mit Mosche und sprach: Gebiete den Kindern Israels, dass sie aus dem Lager tun alle (...), die an Toten unrein geworden sind. (...) Dass sie nicht ihr Lager verunreinigen, in dem Ich unter ihnen wohne« (4. Buch Mose 5, 2–4).
Entsprechend der Tora wird man durch die Berührung eines toten Körpers, durch das Berühren eines Objekts, welches mit einer Leiche in Kontakt gekommen ist, oder durch den Aufenthalt in einem Haus, in dem sich ein Toter befindet, rituell unrein. Auch sind unter anderem eine menstruierende Frau sowie ein Mann nach dem Verlust seines Samens im Status der rituellen Unreinheit.
Moral Diese ist keineswegs eine moralische Unreinheit, die den Unreinen zu einem schlechteren Menschen macht. Auch ist die mögliche physische Unreinheit nicht von primärer Bedeutung, denn auch nach der Reinigung des Körpers wäre man nicht immer vom Status der »Tumah« gereinigt.
Die Freiheit liegt darin, sich mit dem Ewigen zu verbinden und so aus der Unfreiheit der Zeit zu entfliehen.
Es geht hier vielmehr um eine Art spiritueller Unreinheit, die zur Konsequenz hat, dass man den Jerusalemer Tempel nicht betreten und bestimmte mit dem Heiligtum verbundene Aktivitäten nicht praktizieren darf. Da es heute keinen Tempel mehr gibt, haben die Gesetze von Tumah und Tahara wenig praktische Relevanz für die Halacha.
Die Transformation aus dem Status der rituellen Unreinheit in den der rituellen Reinheit erfolgt durch einen bestimmten Reinigungsprozess, der immer das Eintauchen in die Mikwe, das rituelle Tauchbad, oder in eine natürliche Wasserquelle voraussetzt.
Talmud Was aber ist die Idee hinter diesen – für den modernen Menschen befremdlich klingenden – Gesetzen? Ich möchte im Folgenden eine Reise durch die Geschichte wagen – die der rabbinischen Positionen zum Konzept der Tumah und Tahara. Der talmudische Weise Rabbi ben Zakkai (1 Jh. n.d.Z.) sagte: »Der Tote verunreinigt nicht, und das Wasser reinigt nicht (wirklich). G’tt sagte: Ein Gesetz habe Ich gegeben, und du hast keine Erlaubnis, dieses Gesetz zu übertreten.«
Die Kohanim sind in ihrem Tempeldienst die Diener des lebendigen G’ttes und repräsentieren die Verbindung mit dem ewigen Leben.
Das hier benutzte Wort für Gesetz, »Chok«, meint einen Erlass, der keinen uns ersichtlichen Sinn hat und als g’ttlicher Befehl bindend ist. Es gibt also laut Rabbi Jochanan ben Zakkai keine uns ersichtliche Idee, die hinter dem Gesetz steht, nur eine g’ttliche Prüfung, mit der unsere Hingabe getestet werden soll.
Etwa 1000 Jahre später hält die Diskussion um die Idee der Tumah und Tahara weiter an: Der mittelalterliche Mystiker Nachmanides (1194–1270) schreibt, dass die Unreinheit einen unsichtbaren Geist darstellt, welcher durch die Berührung auf den Menschen übertragen wird. Es geht hier also um die Reinigung von einer spirituellen Realität.
Der Rationalist Maimonides(1135–1204) sieht eher einen psychologischen Grund: Die Menschen sollen durch die verpflichtende Reinigung einen größeren Respekt vor dem Tempel erlangen.
Rabbiner Sieben Jahrhunderte später wird das rabbinische Judentum durch zwei weitere rabbinische Größen, Rabbi Avraham Itzhak Kook (1865–1935) und Rabbi Samson Raphael Hirsch (1808–1888), geprägt. Sie bereichern das moderne Judentum mit einem tiefgreifenden Verständnis von ritueller Reinheit sowie Unreinheit.
Laut Rabbiner Kook ist es die im Tod vorhandene Lüge, die all die genannten Dinge unrein macht. Sei es die Leiche, die das Ende des Lebens in seiner intensivsten Form repräsentiert, oder das in der Menstruation und im Samenerguss vorhandene Element des Verlustes potenziellen Lebens.
Der Verlust des Lebens ist eine Lüge, außerhalb des irdischen Lebens befindet sich eine intensivere und geistigere Form des Lebens. Rabbiner Kook schreibt: »Der Tod ist ein falsches Phänomen. Was den Tod unrein macht, ist die Aura der Lüge. Was die Menschen den Tod nennen, ist das genaue Gegenteil seiner selbst – die Erhebung in eine neue Dimension des Lebens.«
Daher dürfen sich die Kohanim, die Familie der Tempelpriester, nicht durch einen Toten verunreinigen. Dies gilt auch in Zeiten, in denen der Tempel nicht mehr steht, und hat daher, anders als die meisten Gesetze der Tumah und Tahara, eine praktische Relevanz.
Die Kohanim sind in ihrem Tempeldienst die Diener des lebendigen G’ttes und repräsentieren die Verbindung mit dem ewigen Leben. Im Tempel durfte es keine Gräber geben. Die Musik der Leviten erfüllte den Tempel, der die Lebenskraft des Universums darstellt. Die talmudischen Weisen sprechen vom »Ort, an dem sich Himmel und Erde gegenseitig küssen«. Daher ist jeder, der den Tempel betreten will, angehalten, sich von der Illusion des Todes zu reinigen, und jeder Kohen ist angewiesen, mit dieser Illusion so wenig wie möglich in Kontakt zu kommen.
Unfreiheit Rabbiner Hirsch ist der Meinung, dass das Wort Tumah zu einer Wortgruppe von Begriffen gehört, die den Verlust von Freiheit und Unabhängigkeit unterstreichen.
All die oben genannten Dinge zur Unreinheit haben ihren Ursprung in einem Kontrollverlust. Der Tod ist dabei der größte Kontrollverlust des Menschen. Der Tod ist ein integraler Teil der Zeit, und das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit ist die Realität der Unfreiheit des Menschen.
Die Freiheit liegt darin, sich mit dem Ewigen zu verbinden und so aus der Unfreiheit der Zeit zu entfliehen, Teil einer Dimension außerhalb von Zeit und Raum zu werden. Im Judentum nennen wir diese Dimension G’tt. Daher interpretiert die Mischna (Joma 8,9) den Vers aus dem Prophetenbuch Jeremia (14,8) »(G’tt ist) die Hoffnung (Mikwe) Israels« wörtlich als »G’tt ist die Mikwe (das rituelle Tauchbad) Israels«.
Das Tauchbad repräsentiert also die Transformation vom Unreinen in das Reine. Und wenn man die Symbiose der Ideen von Rabbiner Kook und Rabbiner Hirsch wagt, so ergibt sich ein neues und atemberaubendes Bild: Der Tod, also die Unfreiheit der Zeit, ist die Quelle der Unreinheit, doch durch die Verbindung mit G’tt, der Mikwe Israels, kann man die Illusion des Todes und die Grenzen des Zeitlichen besiegen und so würdig werden, den Ort der Begegnung von Himmel und Erde zu besuchen.
Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Nasso setzt die Aufgabenverteilung beim Transport des Stiftszelts fort. Es folgen verschiedene Verordnungen zum Zelt und ein Abschnitt über Enthaltsamkeitsgelübde. Dann wird der priesterliche Segen übermittelt. Den Abschluss bildet eine Schilderung der Gaben der Stammesfürsten zur Einweihung des Stiftszelts.
4. Buch Mose 4,21 – 7,89