Wir Rabbiner neigen dazu, immer das Positive zu betonen. Irgendwie gehört das mit zu unserer Berufsbeschreibung. Es ist auch eine alte jüdische Tradition, stets zu erkennen, dass alles zum Guten ist – oder wird.
Ehrlich gesagt, fällt mir das derzeit auch ganz persönlich nicht so leicht. Denn uns allen wird bewusst, in welcher Ausnahmesituation wir uns befinden. Viele sprechen von der größten Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Familie Nun bin ich nicht nur Rabbiner, sondern auch Ehemann und Familienvater. Natürlich sorge ich mich um meine Liebsten. Und selbstverständlich blicke ich beunruhigt auf meine Familie, auf Freunde und Bekannte in Israel. Geht es allen gut, sind alle gesund? Ich lese die bedrückenden Nachrichten aus Deutschland und der ganzen Welt.
Selbstverständlich blicke ich beunruhigt auf meine Familie, auf Freunde und Bekannte in Israel.
Und dann schaue ich auf unsere Gemeinde hier in Frankfurt: Wir stehen vor den verschlossenen Toren unserer Synagoge. Nicht nur die religiösen Angebote sind eingeschränkt. Immer wieder kommen Nachrichten von Menschen, die nicht gesund sind, die sich vor Ansteckung fürchten. Nicht wenige Angestellte, Selbstständige und Freiberufler sorgen sich um ihren Job, ihr Einkommen, ihre materielle Zukunft.
Gerade in einer Situation, in der viele derart verunsichert sind, besinnt man sich auf die Gemeinschaft. Viele suchen Halt und Trost im Glauben und in den Traditionen des Judentums. Auch wer sonst nicht so häufig den Weg zum G’ttesdienst findet, sucht gemeinsames Gebet, die Nähe G’ttes, der ihnen helfen, sie heilen und retten wird.
Risiko Die Nähe G’ttes sollten wir suchen, die Nähe anderer Menschen außerhalb unseres Haushaltes derzeit bitte nicht. Wir dürfen und sollen kein Risiko eingehen. Gesundheit ist jetzt das Wichtigste. Wir müssen uns nahe sein, dabei aber Abstand halten. Wir dürfen das Virus nicht unterschätzen und uns selbst nicht überschätzen.
Die Tora sagt ganz deutlich, dass wir auf uns achten müssen. Sie gibt uns auch Hinweise, was dabei wichtig ist – zum Beispiel Netilat Jadaim, das Händewaschen. Darüber hinaus geben uns Behörden Anordnungen, die wir befolgen müssen. Unbedingt. Da dürfen wir nicht nachlässig sein, sonst gefährden wir uns und andere.
Selbstverständlich betreffen uns dabei besonders Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren. Abstand, so die Experten, sei der sicherste Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus.
social distancing Eine Formulierung, die ich von einer Psychologin hörte, hat mir sehr gut gefallen: Es gehe jetzt nicht um »Social Distancing«, sondern um das »Physical Distancing«, nicht um die soziale, sondern die physische Distanz. Wir sollten auf Abstand gehen, aber niemanden alleinlassen.
Wir sollten auf Abstand gehen, aber dabei niemanden alleinlassen.
Und wir sollten keinen Abstand der Generationen zulassen. Klar, die Jüngeren müssen jetzt die Älteren besonders schützen. Doch es bricht mir das Herz, wenn ich hier in unserer Gemeinde Senioren erlebe, die schon länger ihre Enkel oder Kinder nicht sehen durften, denen nicht zum Geburtstag gratuliert werden konnte.
Man kann Kontakte nicht digitalisieren, Umarmungen und körperliche Nähe lassen sich nicht ersetzen. Das alles können wir ihnen im Moment nicht geben. Aber wir dürfen sie auf keinen Fall zu Hause vergessen. Und wir müssen auch an die denken, die nicht online sind. Sie freuen sich sicherlich über unseren Anruf.
Hilfe Gerade jetzt, in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft verändert, »wenn alles langsamer, weniger und einsamer wird«, wie es die »Zeit« geschrieben hat, dann ist eben auch die Gelegenheit, einmal innezuhalten. Einmal darüber nachzudenken, welcher Freund vielleicht allein ist, welcher Nachbar Hilfe braucht oder wer von den Älteren womöglich nicht genügend Lebensmittel im Vorrat hat.
Erstaunlich viele scheinen genau das bereits zu tun. Ich bekomme jetzt andauernd auf WhatsApp Nachrichten, dass jemand seine Hilfe anbietet, Gebete, Einkäufe oder andere Erledigungen übernehmen kann. Menschen verabreden sich auf Facebook oder Instagram zur Solidarität. Derzeit werden Videos geteilt, die zeigen, wie eine jüdische Hochzeit gefeiert wird, wie zu Hause gesungen und auf dem Balkon getanzt wird. Hier machen die sozialen Medien ihrem Namen wirklich alle Ehre.
Insofern zeigt das Virus einmal mehr, dass Notlagen in Menschen Negatives wie auch Positives auslösen können.
Und bei meinen G’ttesdiensten und Unterrichten in der Zoom-Videokonferenz mache ich die Erfahrung, dass mehr Menschen mit dabei sind, als es sonst manchmal in der Synagoge der Fall ist. Auch scheinen die Reaktionen positiver, die Menschen dankbarer.
kräfte Insofern zeigt das Virus einmal mehr, dass Notlagen in Menschen Negatives wie auch Positives auslösen können. Und bei Angst und Schrecken beobachten wir auch immer zwei unterschiedliche Reaktionen: Die einen verharren ganz starr, die anderen setzen plötzlich ungeahnte Kräfte frei, um sich aus der Situation zu befreien.
Nun liegt es leider nicht an uns allein, uns aus der Corona-Krise zu befreien. Und auch, wenn wir wohl noch eine Weile erleben werden, dass sich Menschen infizieren, womöglich sogar krank werden, sollten wir Glauben und G’ttvertrauen, Emuna und Bitachon, nicht verlieren.
Und wir müssen die Hoffnung bewahren, denn die Hoffnung bewahrt uns. Wenn wir die Hoffnung verlieren, werden wir schwach. Aber wir sind stark, und wir haben schon anderes überlebt.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).