»Warum kurz ein paar Minuten miteinander reden, wenn wir das Ganze doch über WhatsApp in acht Stunden klären können?« Diese lustige Situation kennt jeder. Als weniger witzig empfinden wir diesen Satz: »Jetzt leg endlich dein Handy weg und hör auf zu scrollen!« Was steckt hinter der Angst vieler Menschen, ihr Handy auch nur für ein paar Minuten aus der Hand zu legen?
Freud sprach vom »Lustprinzip« – dem angeborenen und starken Wunsch jedes Lebewesens, die Freude in seinem Leben zu steigern und allem zu entfliehen, was ihm Leid bereitet. Das Handy scheint für diese »Flucht« super geeignet, mit nur einem Touch zum schnellen Glück und zur zufälligen Belohnung.
Die Neurochemie verrät uns, dass unser Gehirn bei Aussicht auf Belohnung oder etwas anderes, das wir genießen, Dopamin ausschüttet. Das Problem dabei ist, dass dieser Dopaminschub nur sehr kurz anhält. Die Aktivierung des »Lustsystems« ist am Anfang immer angenehm. Mit der Zeit lässt die Freude aber nach. Also greifen wir erneut zum Handy, und dann schon wieder und immer wieder und wieder, und ab einem gewissen Punkt kann man nicht mehr damit aufhören – man verliert die Kontrolle.
Wenn es uns schlecht geht, wollen wir uns schnell ablenken.
Der beliebte israelische Sänger Akiva Turgeman singt: »Ich habe ein Smartphone, das mich dumm macht.« Tatsächlich haben Forscher der McCombs School of Business an der University of Texas in Austin herausgefunden, dass Smartphones unsere Gehirne erschöpfen. Sogar die Denkfähigkeit lässt nach, wenn das Smartphone in Reichweite ist, da ein Teil des Gehirns aktiv daran arbeiten muss, das Gerät nicht in die Hand zu nehmen oder zu benutzen.
Stressreaktionen setzen Cortisol im Körper frei
Wer ständig an seinem Telefon hängt, weiß, dass ein Handy auch echte Stressreaktionen hervorruft, und diese wiederum setzen Cortisol im Körper frei. Zu viel Cortisol kann zu Angstzuständen führen und schließlich zu chronischen Krankheiten.
Was also ist die Lösung? In Jerusalem, wo ich lebe, verzichten einige Gemeinschaften komplett auf das Smartphone: In streng religiösen Kreisen kommunizieren die Menschen mit sogenannten »Kosherphones«, auf denen man nur anrufen kann. Doch ich denke, anstatt eine Reihe strenger Gewohnheiten zu etablieren, müssen wir unsere Einstellung zum Leben im Allgemeinen überdenken. Was ich damit meine? Dazu muss ich ein wenig ausholen.
Die Tora erzählt uns von der jüdischen Variante von Romeo und Julia: »Und Jakow arbeitete (für den bösen und gierigen Lawan unter missbräuchlichen Arbeitsbedingungen) sieben Jahre für Rachel, und weil er sie so sehr liebte, kamen ihm diese Jahre wie Tage vor.«
Unser jüdischer Vater Jakow hatte also etwas, von dem er träumen konnte, auf das er sich freuen konnte, seine »Rachel«.
Der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp nennt diesen emotionalen Vorgang in unserem Gehirn »Sinnfindungs-System«. Wie unglaublich stark dieses wirkt, erzählt uns ein Psychologe, der das Konzentrationslager überlebte: Viktor Frankl. Im Inferno von Auschwitz träumte er von seiner Frau und hoffte, sie wiederzusehen. Seine Liebe gab ihm nicht nur Sinn, sondern auch die Kraft, allen Nöten und allen Schrecken standzuhalten.
Liebe aktiviert das »gebende Fürsorge-System«
Nach Panksepp aktiviert Liebe noch ein System in unserem Gehirn: das »gebende Fürsorge-System«. Der Hirnforscher Yoram Yovell erläutert all das sehr ausführlich in seinen Werken und beschreibt dieses System »als das Licht in unseren Augen, dieses Funkeln, wenn wir an den Menschen denken, den wir lieben, den wir beschützen oder dem wir nahestehen. Es tut uns gut und wird niemals enden«.
Es scheint, dass Haschem unser Gehirn für eine echte Zufriedenheit nicht auf Apple oder Android abgestimmt hat. Am effektivsten funktioniert es, wenn wir auf Liebe hoffen und unser Leben danach ausrichten, zu lieben und geliebt zu werden.
Ein Handy kann da natürlich als wunderbarer Paparazzi in der Tasche dienen, um die wertvollen Momente des Lebens einzufangen. Es hilft, auch tagsüber »connected« zu bleiben, Herznachrichten oder Bilder zu versenden, die uns zum Lachen bringen, bis der Bauch wehtut. Wenn wir dann aber mit unseren Liebsten zusammen sind, sollten wir das Gerät außer Sichtweite lassen.
Ein Mensch wird nicht von etwas abhängig, weil es ihm gut geht. Menschen werden süchtig, weil es ihnen schlecht geht und weil sie nach etwas suchen, das ihnen für ein paar Momente ein besseres Gefühl gibt.
Am Schabbat erkennen wir ohne Handy, was wir eigentlich brauchen.
Die Welt in unserem Smartphone wirkt oft angenehmer als die reale, doch der Schein trügt. Denn auch, wenn das Leben einem Menschen Schmerz, Leiden und Unbehagen bereitet, offenbaren gerade diese schweren Zeiten eine besondere Nähe zum Himmel. Weil sie uns dazu zwingen, anzuerkennen, dass Gʼtt sogar an diesen tiefen Orten zu finden ist: »Wenn ich in den Himmel aufsteige, bist Du da. Und wenn ich in die Tiefen der Unterwelt falle, bist Du auch da!«, heißt es in Tehillim 139,8.
Die Sucht sagt: »Ich brauche, ich will, ich komme ohne nicht klar.«
Die Sucht sagt: »Ich brauche, ich will, ich komme ohne nicht klar.« Rabbi Nachman aber lehrt, dass negative Begierden und Süchte unser Bewusstsein für Gʼtt zerstören.
Jüdische Praktiken sind das perfekte Mittel, das eigene Leben upzugraden, denn so übergeben wir es in eine höhere Macht. Wir verleihen ihm einen übergeordneten Sinn. So wie die Liebe zu Rachel Jakow einen Sinn gegeben hat, kann dies auch die Liebe zu Haschem für uns.
Nehmen wir zum Beispiel den Schabbat: Das ist eine radikale Praxis, Gʼttes Willen zu erfüllen. Am Schabbat hören wir auf, das zu tun, was wir tun wollen, oder das zu tun, von dem wir denken, dass wir es wollen – wie etwa den ganzen Tag am Handy zu hängen.
Stattdessen tun wir endlich das, was Gʼtt von uns möchte und was wir selbst eigentlich am meisten brauchen: Wir lassen unsere Seele baumeln, ruhen uns aus und erlauben uns, im Einklang mit der Schöpfung zu sein. Genießen leckeres koscheres Essen, die Familie und die Gemeinschaft. Beten und studieren, tanken Heiligkeit, Spiritualität, Liebe und Freiheit.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Jerusalem.