Drei Bücher werden an Rosch Haschana geöffnet: eines für die vollständigen Übeltäter, eines für die vollständigen Gerechten und eines für die Mittleren. Die vollständigen Gerechten werden zum Leben eingeschrieben, was sofort besiegelt wird. Die vollständigen Übeltäter werden mit sofortigem Siegel zum Tod eingeschrieben. Die Mittleren aber »hängen« und warten von Rosch Haschana bis Jom Kippur. Verdienen sie es dann, werden sie zum Leben eingeschrieben. Falls aber nicht – zum Tod. So steht es im Babylonischen Talmud (Rosch Haschana 16b).
Der Amoräer Rabbi Jochanan (3. Jahrhundert n.d.Z.), von dem dieser Ausspruch stammt, fasst darin das g’ttliche Walten an den Hohen Feiertagen und den zehn Tagen der Reue in einem dramatischen Bild zusammen. Unsere Handlungen des Vorjahres werden vom g’ttlichen Gericht begutachtet und abgewogen, woraufhin ein Urteil gefällt wird, unter das der Ewige in Seiner Rolle als Richter Sein Siegel setzt.
Protokollbücher Unsere Weisen nutzen nicht ungern die Metapher von himmlischen Protokollbüchern, um anzudeuten, dass alle menschlichen Taten »oben« vermerkt werden und von G’tt bei der Gestaltung des zukünftigen Lebensverlaufs der Individuen wie der Gemeinschaft berücksichtigt werden. So lesen wir etwa im Traktat Awot der Mischna (2,1): »Richte dein Augenmerk auf drei Dinge, und du wirst nicht in die Hände der Sünde gelangen. Wisse, was über dir ist: ein sehendes Auge, ein hörendes Ohr – und all deine Taten werden in einem Buch niedergeschrieben.«
Wie die Gemara selbst zu erklären beginnt, ist diese Szenerie der Gerichtsversammlung und des Protokollierens der poetischen Sprache des Tanach entlehnt. So hören wir etwa in den Psalmen (82), markanter jedoch im Buch Hiob, dass der Ewige in einem »Bet Din schel Maala« – wie es spätere Generationen nannten – in der Versammlung der Engel präsidiert, wo Er als alleiniger Richter (Awot 4,8) den Fürsprachen und Anklagen der hohen Anwälte lauscht.
Gedächtnis In diesem Zusammenhang kennt die Heilige Schrift auch sinnbildliche Bücher, die zur Verlesung der Taten des Gerichteten geöffnet werden (Daniel 7,10) und in denen das Urteil, nämlich seine Zukunft, verzeichnet wird. So spricht G’tt etwa durch den Propheten Malachi von einem protokollarischen »Buch des Gedächtnisses für die, die den Ewigen fürchten und auf Seinen Namen bedacht sind« (Malachi 3,16), auf dass sie am Tag des endzeitlichen Gerichts nicht vergessen werden.
Auf ein solches Buch bezogen, betet auch David, der Ewige möge die Übeltäter »aus dem Buch des Lebens löschen, auf dass sie nicht mit den Gerechten eingeschrieben werden« (Tehillim 69,29). Die herausragendste Stelle dieses »Buchs der Zaddikim« (Targum Jeruschalmi) ist jedoch die Aufopferung Mosche Rabbenus, des bescheidensten aller Menschen (4. Buch Mose 12,3), für das jüdische Volk. Nachdem Israel durch das Goldene Kalb noch am Berg Sinai gesündigt hatte, bestand die Gefahr, dass G’tt das Exodusprojekt abbrechen und das Volk nicht nach Eretz Israel gehen lassen würde.
Da sprang Mosche in die Bresche, stellte sich vor das verzehrende Bergfeuer und betete: »Bitte, dieses Volk hat sich schwer gegen Dich verfehlt ... doch nun, vergib ihre Sünde! Wenn aber nicht, lösch mich aus Deinem Buch, das Du geschrieben hast.« Mosche bietet an, unverzüglich zu sterben, um die Zukunft des Volkes zu retten. Doch ein solcher Deal hat vor G’tt keinen Bestand. »Wer gegen Mich sündigt, (nur) den lösche ich aus Meinem Buch«, ertönt die Antwort (2. Buch Mose 32,32–33). Dennoch erhörte der Ewige das Gebet Mosches und ließ das Volk weiterziehen.
HOFZEREMONIELL Die eindrucksvolle Bildsprache von den Büchern ist dabei direkt dem Hofzeremoniell des biblischen Königtums entnommen. Wie in den Visionen der Propheten der unendliche G’tt des Öfteren in der Gestalt eines irdischen Königs wahrgenommen wird, der auf einem »hohen und erhabenen Thron« sitzt (Jesaja 6), so bedient Er sich im Rahmen dieser prophetischen Bilder auch Engeln, die als Schreiber vor Ihm arbeiten.
Doch nicht nur den Propheten wurde ein solcher Einblick zuteil, sondern auch unsere Weisen erblickten hier und da Abbilder des g’ttlichen Gerichtshofes. In ihren Himmelsschauen erscheint der in den Engel Metatron verwandelte Chanoch (Hechalot Rabbati 31,3) als Sekretär des Ewigen, der vor allem die Verdienste Israels vermerkt (Chagiga 15a). Eine irdische Grundlage für diese oberen Vorgänge findet man etwa in der Megillat Esther, wo wir lernen, dass der Perserkönig Achaschwerosch die Rettung des Juden Mordechai in seinen Annalen verzeichnet, um ihn anhand dieser Eintragung später reichlich zu belohnen (Esther 6).
Ketiwa und Chatima Auch der von den rabbinischen Weisen gelehrte Unterschied zwischen einer »Ketiwa« an Rosch Haschana – einer bloßen Einschreibung in eines der drei Bücher – und einer Besiegelung, der »Chatima« an Jom Kippur (Tosefta, Rosch Haschana 1), wird hierdurch deutlich.
Denn »ein Edikt, das im Namen des Königs geschrieben und mit dem Ring des Königs besiegelt wurde, kann nicht aufgehoben werden« (Esther 8,8). Wurde es allerdings noch nicht besiegelt, ist es widerrufbar. Auf diese Weise werden also an Rosch Haschana und Jom Kippur all unsere vergangenen Taten berechnet und eine von drei grundsätzlichen Richtungen für das Leben der Menschen im Folgejahr festgelegt.
WELTGERICHT Wie aber sollte man sich in Anbetracht der Last, die man durch die Kategorisierung in eines von drei Büchern verspüren könnte, verhalten? Immerhin, so lehrt das strenge Bet Schammai, begegnen uns diese nicht nur alljährlich, sondern auch am Ende unseres Daseins, am Tag der Auferstehung und des Weltgerichts!
»Die Schule Schammais sagt: Drei Gruppen gibt es am Tag des Gerichts: vollständige Gerechte, vollständige Übeltäter und ›Benonim‹ – Mittlere. Die vollständigen Gerechten werden sofort für das ewige Leben eingeschrieben und versiegelt, die vollständigen Übeltäter sofort für das Gehinnom. Die Benonim fahren zum Gehinnom hinab, fiepsen (vor Angst) und fahren wieder hinauf.« Denn so scheint Channa, die Mutter des Propheten Schmuel, es in ihrem berühmten Gebet
(1 Schmuel 2) anzudeuten: »Der Ewige tötet und belebt, führt in die Unterwelt hinab und wieder hinauf.«
Doch laut dem milderen Bet Hillel ist überliefert, dass G’tt den Benonim mehr Gnade zeigen wird, sodass sie das Gehinnom nicht einmal kurz erblicken müssen (Rosch Haschana 17a).
Pfad der Mitte So oder so, die Halacha schreibt vor, dass der Mensch stets auf dem Pfad der Mitte zu wandeln hat und sich somit weder als vollständigen Gerechten noch als vollständigen Übeltäter ansehen sollte. Man sei ein Benoni in den eigenen Augen, wie der Rambam im Anschluss an das Traktat Nidda lehrt. Denn wer sich als zu gerecht ansieht, sucht die Reue nicht. Wer aber meint, zu böse zu sein, wähnt sich schon verloren und verzweifelt daran.
Daher soll der Mensch nicht allzu sehr verunsichert sein und die schlimmste Strafe fürchten, aber er soll auch nicht zu selbstsicher sein und sich den höchsten Lohn ausmalen. Ein demütiger Benoni sei er und überlasse die himmlische Bürokratie allein dem »Heiligen (gelobt sei Er), dessen Siegel die Wahrheit ist« (Schabbat 55b).
Der Autor studiert Jüdische Theologie an der Universität Potsdam.