Gebote

Himmlische Belohnung

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Auf der Hitliste der religiösen Ideen, die besonders kritisch beäugt, belächelt oder gar abgelehnt werden, landet die jüdische Idee eines himmlischen Belohnungssystems ziemlich weit vorn. Die Vorstellung, dass wir für die Erfüllung gʼttlicher Gebote noch auf Erden bewertet und honoriert werden, treibt nicht nur solche auf die Palme, die der Religion ohnehin nichts abgewinnen können, sondern gelegentlich auch die eigenen Anhänger, die sich für besonders vernünftig und aufgeklärt halten.

Und doch ist dieses Prinzip ein Grundpfeiler des Judentums und der hebräischen Bibel. Wir finden es im zweiten Absatz unseres Glaubensbekenntnisses, also des Schma-Israel-Gebets, das Passagen aus dem 5. Buch Mose enthält. In dem Gebet, das wir im Idealfall zweimal täglich sprechen, heißt es: »Wenn ihr auf Meine Gebote hört, die Ich euch heute gebiete, den Ewigen, euren Gʼtt, zu lieben und Ihm zu dienen, mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seele, so werde Ich den Regen eures Landes geben zu seiner Zeit, Früh­regen und Spätregen, dass du einsammelst dein Getreide und deinen Most und dein Öl. Und Ich werde Gras geben auf deinem Feld für dein Vieh, dass du essest und satt werdest« (5. Buch Mose 11, 13–21).

Gesetzestreue und Wohlergehen

Will heißen: Wenn wir die Gebote der Tora einhalten und auf Gʼttes Wegen wandeln, dann wird es uns gut gehen. Und wenn nicht? Dann eben nicht. Damit ist zwar eine grundsätzliche Aussage über eine Beziehung zwischen Gesetzestreue und Wohlergehen getroffen. Doch gleichzeitig ist sie sehr allgemein gehalten. Denn es gibt keine klare Aussage zu bestimmten Geboten. Und auch die genaue Wirkungsweise bleibt eher unklar.

Rabbiner Benjamin Blech fragt in seinem Buch Understanding Judaism, ob es nicht besser wäre, konkretere Angaben zu haben. Was wäre, wenn wir genau wüssten, welche Belohnung wir für welche Gebotserfüllung zu erwarten hätten? Eine Urlaubsreise, wenn wir unseren Nächsten lieben? Ein neues Auto, wenn wir den Schabbat halten? Im Talmud steht, dass wir den genauen Lohn für die Erfüllung der Gebote nicht kennen (Sprüche der Väter 2,1). Aber was wäre, wenn?

Willens- und Wahlfreiheit setzen echte Optionen voraus.

Dann entstünde ein neues Problem. Dieses hat bereits Antigonos, eine herausragende rabbinische Persönlichkeit des 3. Jahrhunderts n.d.Z., in den Sprüchen der Väter thematisiert: »Seid nicht wie Knechte, die dem Ewigen nur um der Belohnung willen dienen. Sondern seid wie Knechte, die dem Ewigen ohne Rücksicht auf Belohnung dienen« (1,3). Will heißen: Jede Handlung, die wir nur deswegen ausführen, weil uns eine Belohnung winkt, wird dadurch entwertet.

Gʼtt steckt in der Zwickmühle

Wie Rabbiner Blech schreibt, steckt Gʼtt nun in der Zwickmühle. Denn wie soll er den Menschen klarmachen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Erfüllung einzelner Gesetze und der jeweiligen Belohnung gibt, ohne Gefahr zu laufen, dass das Streben nach dem Lohn zur alles entscheidenden Motivation wird? Die Tora macht hier einen Kompromiss. Und nutzt eine Methode, die aus Gerichtsverfahren bekannt ist: Dort müssen zwei unabhängige Zeugen einen Sachverhalt bestätigen. Und auch hier werden quasi zwei Zeugen herangezogen, welche die Annahme bestätigen, dass für die Erfüllung biblischer Gebote Belohnungen winken.

Faszinierender Weise gibt es genau zwei Gebote in der Tora, die eine konkrete Belohnung versprechen. In beiden Fällen ist es auch noch dieselbe. Nämlich ein langes Leben. Das erste Gebot ist die Verpflichtung, einen Muttervogel, der gerade Eier ausbrütet, fortzuschicken, bevor man sich die Eier aneignen darf. Es ist also verboten, sich die Mutter und die Eier zu schnappen, um sie zu verspeisen. Stattdessen muss man den Muttervogel fliegen lassen (5. Buch Mose 22, 6–7).

Das zweite Gebot, das sich an prominenter Stelle in den Zehn Geboten findet (2. Buch Mose 20,12), ist die Verpflichtung, die Eltern zu ehren. Beide Gebote dienen in der Tora als Zeugen dafür, dass Gebote Belohnungen bereithalten. Sie etablieren das grundlegende Prinzip. Doch reicht das wirklich, um anzunehmen, dass jedes Gesetz dem Belohnungsprinzip unterliegt?

Rabbiner Blech weist darauf hin, dass wir es bei diesen beiden Geboten nicht nur mit Musterbeispielen zu tun haben, sondern dass sie von ganz besonderer Qualität sind. Sie stehen nämlich an den unterschiedlichen Enden des Gebotsspektrums. Sie symbolisieren exemplarisch die ganze Bandbreite der Gebote. Denn würde man die Gesetze nach Schwierigkeitsgraden ordnen, stünde ein Gebot am Anfang und eines am Ende.

Das leichteste und das schwerste aller Gebote

Wir hätten es sozusagen mit dem leichtesten und dem schwersten aller Gebote zu tun: Um den Muttervogel fortzuschicken, bedarf es nur eines Handstreichs. Dagegen gilt den Gelehrten das wahrhafte Ehren der Eltern als am schwierigsten zu erfüllende Regel der Tora. Das ist auch heute mit Blick auf die nicht selten komplizierten Beziehungen zwischen Kindern und Eltern gut nachvollziehbar.

Diese zwei Gebote rahmen also das gesamte Gesetzeswerk ein. Und bringen damit zum Ausdruck, dass nicht nur sie eine Belohnung bereithalten, sondern auch alle anderen Gesetze dazwischen. Damit werden quasi zwei Fliegen mit einer »gʼttlichen« Klappe geschlagen. Einerseits wird das Belohnungsprinzip an zwei elementaren Beispielen eingeführt. Andererseits wird verhütet, dass dem Handeln eine falsche Motivation zugrunde liegt, indem nicht für jedes einzelne Gebot eine konkrete Belohnung formuliert wird.

Das Prinzip existiert also, ohne dass man dauernd mit der Nase darauf gestoßen wird. Nicht schlecht, oder?

Glück, Segen und Wohlergehen

Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Denn nicht jeder, der ein gʼttgefälliges Leben führt, wird von Glück, Segen und Wohlergehen begleitet. Umgekehrt gibt es ausreichend Beispiele für schlechte Menschen, die zumindest vordergründig prächtig durchs Leben kommen. Wie passt das zusammen? Die Frage begleitet das Judentum seit seinen Anfängen. Schon Awraham, Mosche, Jeremia oder Hiob haben Gʼttes Gerechtigkeit infrage gestellt. Haben den Ewigen angeklagt und Antworten verlangt. Mit mäßigem Erfolg.

Dabei gibt es eine Reihe von Erklärungen, die sich mit dem Problem auseinandersetzen. So weisen unsere Rabbiner darauf hin, dass sich die Verheißungen im Schma-Israel-Gebet ebenso wie an anderen Stellen gar nicht an den Einzelnen richten, sondern an das Volk Israel. Sie sind in aller Regel im Plural formuliert, nicht im Singular. Sie beschreiben Konsequenzen für die Gemeinschaft, nicht für den Einzelnen. Mehr noch: Sie gelten für das Volk Israel im Land Israel. Sie sind die religiöse Blaupause für eine kollektive jüdische Existenz im Heiligen Land.

Wobei Rabbiner Emanuel Rackman es noch weiter fasst und schreibt: »Ein Volk kann nicht lange bestehen, wenn es nicht auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und den übrigen Idealen, die die Tora vorschreibt, gegründet ist. Denn es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen einer rechtschaffenen Gesellschaft und ihrer Langlebigkeit.«

Doch was ist mit den zwei Musterbeispielen, den konkreten Geboten, die dem Einzelnen ein langes Leben versprechen? Schon Rabbi Akiva, einer der jüdischen Superstars des ersten Jahrhunderts, erklärte, dass sich die versprochene Belohnung gar nicht auf ein langes Leben in dieser Welt bezieht, sondern in der nächsten. Denn auch für Rabbi Akiva war klar, dass ein langes Leben in dieser Welt selbst im besten Fall nicht wirklich lang ist. In der kommenden Welt sieht es da schon ganz anders aus.

Gerechte leiden, und Ungerechte prosperieren

Diese Antwort, die viele Anhänger hat, steht im Einklang mit den Grundüberzeugungen des Judentums. Denn wenn wir es mit einem wahrhaft gerechten Gʼtt zu tun haben und gleichzeitig erleben, wie in dieser Welt Gerechte leiden und Ungerechte prosperieren, kann der Ausgleich nur in der kommenden Welt erfolgen. Ein gerechter Gʼtt schafft vollkommene Gerechtigkeit. Aber eben erst dann und nicht schon jetzt. Nicht ohne Grund heißt es auch im Talmud: »Es gibt keine Belohnung für die Erfüllung eines religiösen Gebots in dieser Welt« (Babylonischer Talmud Kidduschin 39b).

Warum muss auch jemand, der ein gʼttgefälliges Leben führt, Schlechtes ertragen?

Maimonides, der größte Religionsphilosoph des Mittelalters, wählte einen anderen Ansatz. Lohn und Strafe seien zwar ein wesentlicher Grundsatz des Judentums, die Passagen in der Tora aber nicht unbedingt wörtlich zu verstehen. Aufgrund der Beschränktheit des Verstandes vieler Menschen bedürfe es jedoch einprägsamer Sprachbilder.

Viele seien nämlich wie Kinder, die den Wert von Bildung nicht begreifen könnten. Um sie zu lehren, brauche es Belohnungen. Wenn sie klein seien, verspreche man ihnen Süßigkeiten, beim Heranwachsen stelle man Geld in Aussicht; als Erwachsene locke man sie mit Ruhm und Ehre. Dies sei zwar hässlich, aber notwendig. Denn das Ziel seien Wissen, Wahrheit, Erkenntnis und Vervollkommnung im Lichte des Ewigen.

Graue Realität

So klar und plastisch die Sprache der Bibel also sein mag, so unklar und wenig greifbar bleibt die Wirkungsweise in der grauen Realität. Und das ist auch gut so! Oder um es mit Rabbiner Rackman zu sagen: »Das Fehlen von Belohnungen im Diesseits schließt das Streben nach dem Guten zu einem anderen Zweck aus. Ich muss das Gute suchen, weil es gut ist. Und um sicherzustellen, dass sich die Menschen so verhalten, erlaubt Gʼtt niemandem, einen Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Belohnung zu sehen.«

Außerdem: Wenn eine jede Gebots­erfüllung und gute Tat automatisch und unmittelbar eine himmlische Belohnung nach sich zögen, wie viel Freiheit hätten wir dann noch, das Schlechte zu wählen? Wer würde schon Schlechtes tun, wenn die Strafe auf den Fuß folgen würde? Fest steht: Willens- und Wahlfreiheit setzen echte Optionen voraus.

Auch die Möglichkeit, das Schlechte zu wählen. Denn nur so wird die Wahl der guten Tat zu einer wirklich freien, selbstbestimmten, richtigen und guten Entscheidung. Ergo: Wir verstehen zwar das genaue Zusammenspiel von Gebotserfüllung und Belohnung nicht vollständig. Aber wir können zumindest verstehen, warum es nicht verständlich sein darf! Verstanden?

Der Autor ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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