Deutung

Hier und Heute

Dortmunder Gemeindemitglieder begrüßen ihre neue Torarolle (Mai 2014). Foto: Jochen Linz

Heute soll es um ein einziges Wort in unserer Parascha gehen: »hajom« – »heute«. Es ist nur ein kleines, kurzes Wort, aber in unserer Parascha kommt es ungewöhnlich häufig vor. Wer Lust hat, kann sich zum Nachmittagskaffee mal einen Chumasch nehmen und zählen, wie oft es vorkommt.

Derjenige, der die Bikurim, die ersten Früchte, zum Tempel bringt, spricht zum Kohen die Worte: »Ich bezeuge heute vor dem Ewigen, deinem Gott, dass ich in das Land gekommen bin, von dem der Ewige unseren Vätern geschworen hat, dass er es uns gebe« (5. Buch Mose 26,3). In einem anderen Vers heißt es: »An diesem heutigen Tag gebietet dir der Ewige, dein Gott, dass du diese Satzungen und Rechtsbestimmungen hältst. (...) Du hast dem Ewigen heute zugesagt, dass er dein Gott sein soll und dass du auf seinen Wegen wandeln und seine Satzungen, Gebote und Rechtsbestimmungen halten und seiner Stimme gehorchen willst. Und der Ewige hat dir heute zugesagt, dass du sein Eigentumsvolk sein sollst, so wie er es dir verheißen hat, und dass du alle seine Gebote hältst« (5. Buch Mose 26, 16–18).

Aktualität Das Wort »hajom« wird mehrmals wiederholt. Der bekannte mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) versucht, dies zu erklären, und zitiert einige Midraschim, rabbinische Kommentare. Das Wort »heute« wird an dieser Stelle so oft benutzt, weil es noch einmal um die Gabe der Tora geht. Es soll uns klarmachen, dass die Tora etwas Heutiges ist, etwas Aktuelles, das uns betrifft – hier und jetzt. Nicht etwas Altes, Abgetragenes, Abgenutztes – out und völlig uncool.

Die Gemara im Traktat Brachot fragt zu Recht: »Was heißt ›Heute gab Er Mosche die Tora‹? Er hat sie doch schon 40 Jahre vorher gegeben. Mosche bezieht sich mit ›hajom‹ doch auf jetzt, lange Zeit danach!« Die Tora ist nun mal das Wertvollste, was wir haben – sie soll stets so angesehen und behandelt werden, als hätten wir sie erst heute bekommen. Dies ist eine wichtige Lehre, die wir immer berücksichtigen sollen, wenn wir über die Tora nachdenken und reden.

Man könnte sich fragen, ob wir die Tora immer nur heute sehen sollen. Sollen wir nicht in die Vergangenheit schauen, aus unserer Geschichte lernen, alles in Betracht ziehen, was wir in den vergangenen Jahrhunderten durchgemacht und gelernt haben? Ist die Tora nur für heute? Sollen wir etwa nicht in die Zukunft schauen, nichts planen, sondern uns nur mit dem Hier und Jetzt beschäftigen?

Die Antwort ist ganz klar: Die Vergangenheit ist für das jüdische Volk ungeheuer wichtig – man könnte fast sagen: Wir haben die Erinnerung erfunden. Die Zukunft ist für uns ungemein wichtig; nur durch den Blick nach vorn, die Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren, sind wir dahin gekommen, wo wir jetzt sind. Aber die Nekuda, der Punkt, das Zentrum des jüdischen Lebens, ist immer hajom – heute. Denn aus der Perspektive des Heute schauen wir zurück in die Vergangenheit, und auf unsere Situation heute schauen wir im Licht der Vergangenheit, wir schauen auf unsere Herausforderungen aus heutiger Perspektive.

Handeln Heute ist der Moment des Handelns, des Änderns. Wir müssen jetzt leben, um die Aktualität, die Frische der Tora zu erleben. Gerade als nicht-orthodoxe Juden betrachten wir die Tora und ihre Gesetze immer im Licht des Heute, der Aktualität, unseres Lebens hier und jetzt – ohne jedoch das Gestern und das Morgen aus dem Blick zu verlieren, vor allem kurz vor Rosch Haschana. In der Liturgie von Rosch Haschana sagen wir mehrmals »Hajom harat Olam« – »Heute entstand die Welt«. Heute ist der Tag, an dem alles möglich ist. Ich kann durch die Entscheidungen, die ich heute treffe, meine Handlungen, die ich heute begehe, den Lauf der Dinge positiv beeinflussen.

Der Abschluss der Liturgie für Rosch Haschana und Jom Kippur wird begleitet von einem Text, dessen erstes Wort in jeder Zeile »hajom« lautet. Es ist eine Bitte an Gott, uns heute zu segnen, uns groß zu machen, heute unsere Gebete zu erhören.

Identität Die Identität des Individuums steht in unserer heutigen Gesellschaft oft im Vordergrund. Das Gruppengefühl beschränkt sich auf einen zeitlich und örtlich begrenzten Rahmen, zum Beispiel einen Fußballverein oder einen Tanzklub. Im Verein kann ich zwar ein Gruppengefühl entwickeln, es beschränkt sich aber meist auf die jeweiligen Veranstaltungen. Wenn ich einige Zeit nicht mehr zum Fußballverein gehe, verliert sich das Gruppengefühl, und es braucht dann wieder einige Zeit, sich einzuleben.

Das Gefühl, zum jüdischen Volk zu gehören, ist aber nicht zeitlich und örtlich gebunden. Es mag Zeiten geben, in denen das Gefühl weniger stark ausgeprägt ist; es mag Orte geben, an denen man sich mehr oder manchmal auch weniger jüdisch fühlt – aber das Gefühl ist immer da.

Das »Heute« in unserem Land, und damit meine ich die gesellschaftspolitische Situation seit einigen Wochen, da auf deutschen Straßen wieder antisemitische Parolen gegrölt werden, ohne dass jemand etwas dagegen unternimmt, lässt dieses Gefühl bei vielen wieder stärker werden. Die Situation erinnert ein wenig an das Heute vor einigen Jahrzehnten: Damals wurden Menschen, die mit dem Judentum nichts mehr zu tun hatten, von anderen daran erinnert, dass sie Teil des jüdischen Volkes sind. Das bestätigt die Aussage, dass wir auf das Heute im Licht der Vergangenheit blicken.

Wir dürfen nun heute, angesichts der Lage in diesem unseren Land, nicht tatenlos zusehen und hoffen, dass sich alles von allein regelt und das Heute unserer Enkelkinder wieder ein besseres sein wird.

Darum wird uns das »hajom« in dieser Parascha so eingehämmert. Das Judentum ist keine Religion der Zukunftsgewandtheit, kein alleiniges Blicken auf die Tage, wenn der Maschiach kommt. Es ist etwas, was uns heute herausfordert – jeden Tag aufs Neue. Wenn Sie diese Woche die Parascha noch einmal lesen, achten Sie auf die Bedeutung, die »hajom« für uns hat. Wie es in unserer Parascha steht: »Und der Ewige hat euch heute dazu ausersehen, sein eigenes Volk zu sein.«

Der Autor ist rabbinischer Studienleiter des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks (ELES).

Inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Tawo werden die Israeliten aufgefordert, ihre Dankbarkeit für die reiche Ernte und die Befreiung aus der Sklaverei auszudrücken. Sie sollen für die Ernte und die Befreiung aus der Sklaverei ein Zehntel der Erstlingsfrüchte opfern. Und sie sollen die Gebote G’ttes auf großen Steinen ausstellen, damit alle sie sehen können. Danach schildert die Tora Fluchandrohungen gegen bestimmte Vergehen der Leviten. Dem folgt die Aussicht auf Segen, wenn die Mizwot befolgt werden. Zum Abschluss erinnert Mosche die Israeliten daran, dass sie den Bund mit dem Ewigen beachten sollen.
5. Buch Mose 26,1 – 29,8

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