Eine Mischna, die zur Formulierung diverser Gebetstexte geführt hat, lautet: »Rabbi Chanina, der Assistent der Priester, sagt: Bete für das Wohl der Regierung! Denn wäre nicht Furcht vor ihr, sie würden einer den anderen lebend verschlingen« (Sprüche der Väter 3,2).
Wir wissen, dass die Anweisung unserer Mischna auch auf nichtjüdische Regierungen zu beziehen ist. Denn schon der Prophet Jirmejahu hatte im Namen Gottes verkündet: »Und fördert das Heil der Stadt, dahin Ich euch fortgeführt habe, und betet für sie zu dem Ewigen, denn mit ihrem Wohl wird auch euch wohl sein« (29,7). Wie für das eigene Wohlergehen, so sollen Juden auch für das Heil des Staates wirken und beten.
Leben Rabbi Chaninas Ausspruch kann derjenige besser verstehen, der dessen Lebensgeschichte kennt. Dieser Tannait war ein hochrangiger Priester, der im Jerusalemer Heiligtum gedient hat. Dann erlebte er die folgenreiche Zerstörung des Tempels durch die Römer und wurde ein Märtyrer; im Schulchan Aruch (Orach Chajim 580) wird der 25. Siwan als Tag seiner Hinrichtung genannt. Nach Jeschajahu Leibowitz (1903–1994) hat Rabbi Chanina die römische Herrschaft sehr gehasst – und doch forderte er seine Glaubensgenossen auf, für das Wohl dieser Regierung zu beten, weil sie notwendig ist.
Im Anarchismus erkannte Rabbi Chanina eine ernste Gefahr, die er drastisch auszumalen verstand. Wie es zu dem einprägsamen Bild kam, erläutert die Gemara: »Es heißt: ›Du ließest die Menschen werden wie die Fische im Meer, wie das Gewürm, das keinen Herrscher hat‹ (Habakkuk 1,14). Weshalb werden die Menschen mit den Fischen verglichen? Wie unter den Fischen des Meeres der größere Fisch den kleineren verschlingt, so würde, wenn es unter den Menschen keine Furcht vor der Regierung gäbe, der Mächtigere seinen schwächeren Genossen verschlingen« (Avoda Zara 3b und 4a).
Don Jitzhak Abrabanel (1437–1508) wirft in seinem Kommentar zu unserer Mischna die Frage auf, warum Rabbi Chanina vom Wohl der Regierung (Hebräisch: Malchut) spricht und nicht vom Wohl des Königs (Hebräisch: Melech). Abrabanel ist für seine kritische Einstellung zur Monarchie bekannt. Deshalb überrascht seine Erklärung nicht. Seiner Ansicht nach sollten Richter für Ordnung sorgen und nicht ein König, der doch meistens das Recht beugt. Eine stabile Regierung hat für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Sie bestraft Unrechtshandlungen und versucht sie dadurch zu verhindern.
Tora Wie eingangs erwähnt, hat Rabbi Chaninas Ausspruch dazu geführt, dass Heilsbitten für die Regierung des Landes formuliert wurden. Man rezitiert eine solche Bitte nach der Toralesung am Schabbat und an Feiertagen. In vielen Siddurim und Machsorim sind solche Gebete abgedruckt. Manchmal weicht die deutsche Fassung in einigen Punkten vom hebräischen Text ab. Bei einem Vergleich verschiedener Auflagen des Rödelheim-Siddurs stellt man fest, dass ab 1922 eine neue Version des »Gebets für das Vaterland« gedruckt wurde. Die erfolgte Änderung hängt sicher mit der Abschaffung der Monarchie zusammen und wohl ebenfalls mit der neuen politischen Lage.
Was aber sollen Beter machen, wenn die Regierung nicht mehr bereit ist, das Leben der jüdischen Staatsbürger zu schützen? Von einem solchen Fall hat Rabbi Chanina in der Mischna nicht gesprochen.
Wie handelten Synagogenbesucher in jener dunklen Zeit, als sie von den Nazis in Deutschland und auch in den besetzten Gebieten drangsaliert wurden? Die israelische Historikerin Jehudit Tydor Baumel-Schwartz hat dieses Thema eingehend untersucht und gelangte zu dem Schluss, dass es sowohl in verschiedenen Ländern als auch innerhalb eines Staates unterschiedliche Reaktionen gab. Bei der Entscheidung über das Gebet für die Regierung waren also immer verschiedene Aspekte zu berücksichtigen.