In jeder Notaufnahme im Krankenhaus und in jeder Arztpraxis kennt man das Phänomen, dass etliche Patienten ausgerechnet am Wochenende ärztliche Hilfe suchen, selbst wenn ihr gesundheitliches Problem schon länger bestanden hat. Offenbar haben manche Erkrankte an diesen Tagen eher Zeit, sich in Behandlung zu begeben, als an Arbeitstagen.
Das war wohl schon zu talmudischen Zeiten so. Obwohl Pikuach Nefesch, die Abwendung von Gefahren für Leib und Leben, ein so hohes Gut ist, dass dadurch im Notfall sogar 610 der 613 Gebote übertreten werden dürfen, muss man doch genau entscheiden, was ein solcher Notfall ist.
Patienten mit chronischen Erkrankungen können bis nach Schabbat warten
Unsere talmudischen Weisen erklärten dazu, dass alle Patienten mit chronischen Erkrankungen ohne akute Verschlimmerung und auch solche mit völlig harmlosen Beschwerden durchaus bis nach dem Schabbat warten können. Doch war ihnen natürlich ebenso bekannt, dass es Krankheiten und Verletzungen gibt, deren Versorgung keinesfalls Aufschub duldet. Dazu gehörten für sie insbesondere solche, die unter den Begriff einer inneren Verletzung fielen. Dieser Begriff wurde jedoch sehr weit gefasst.
Nach Avoda Sara 28a betraf dies beispielsweise auch Verletzungen von Hand- oder Fußrücken sowie Erkrankungen von Mund und Zahnfleisch. Der Jerusalemer Talmud (Schabbat 14,4) nennt an dieser Stelle zusätzlich alle Probleme, die den Schädel betreffen, einschließlich der Kiefergelenke. Ebenso galten die Augen als hochsensibel, sodass bei schweren Augenentzündungen eine sofortige Behandlung möglich war.
Starke Schmerzen und ansteigendes Fieber bedingten ebenfalls eine umgehende Behandlung am Schabbat, und dass schwere Verletzungen wie Schwertwunden sofort versorgt werden mussten, ergab sich von selbst.
In Avoda Sara 28a wird in diesem Zusammenhang der Umgang mit einer Schwertwunde beschrieben. Man verabreichte als erstes Kresse in Essig zum Stillen der Blutung. Die Kresse gilt als natürliches Antibiotikum, und sie enthält reichlich Vitamin K, was die Blutgerinnung unterstützt. Der Kresse-Essig sei dem Verletzten zum Trinken gegeben worden, erklärt der Kommentator Raschi (1040–1105).
Dann brachte man zur Förderung der Wundheilung Pflanzenfasern oder auch Würmer vom Abfallhaufen auf die Wunde auf. Damit sind vermutlich Maden gemeint, die insbesondere in der Zeit vor der Entdeckung des Penicillins mit Erfolg bei schlecht heilenden Wunden eingesetzt wurden. Die Maden scheiden einen Stoff aus, der abgestorbenes Gewebe in der Wunde abbaut, das Immunsystem unterstützt und tatsächlich entzündungshemmend wirkt. Die Pflanzenfasern dienten vermutlich als eine Art Verband.
Abszesse dürfen am Schabbat behandelt werden
Auch dürfen am Schabbat Abszesse behandelt werden, wie im Traktat Schabbat mehrfach betont wird. Dornen, die in die Haut eingedrungen sind, darf man mit einer feinen Nadel entfernen. Und Gangrän oder Wundbrand ist so gefährlich, dass unsere Weisen die Anwendung einer Wundauflage aus Sauerteig nicht nur am Schabbat, sondern sogar während der Pessachwoche erlaubten.
Eine tödliche Krankheit, die trotz des Schabbats ein unverzügliches Handeln erfordert, um eine Ansteckung zu verhindern, stellt die Tollwut dar. In Joma 83b wird genau beschrieben, woran man einen tollwütigen Hund erkennt, nämlich am Speichelfluss, dem eingezogenen Schwanz und der Art, wie er sich am Straßenrand entlang bewegt. Man musste das hochgefährliche Tier sofort töten, selbst am Schabbat – aus sicherer Entfernung durch Steinwürfe.
Wen der Hund auch nur berührt hatte, der musste seine Kleider verbrennen. Gut beobachtet, denn heute wissen wir, dass nicht nur der Biss, sondern schon der bloße Hautkontakt mit dem Speichel die Tollwut übertragen kann. Ein wirksames Heilmittel war unseren Weisen nicht bekannt. War die Krankheit einmal ausgebrochen, war sie tödlich, und so ist es letztlich bis heute.