In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Thema psychische Gesundheit aus seinem Schattendasein herausbewegt und ist zu einem wichtigen Bestandteil des aktuellen Diskurses geworden. Hoffentlich wird es die Sichtbarkeit der etwa 17 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland erhöhen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben und Hilfe suchen.
Während Lehrer zunehmend darin geschult werden, sensibel auf diese Herausforderungen einzugehen und ihren Unterricht an Menschen mit besonderen Bedürfnissen anzupassen, gelingt es noch nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen, die psychische Gesundheit zu berücksichtigen. Für junge jüdische Menschen, die mit psychischen Herausforderungen kämpfen, bringt der Weg zu Akzeptanz und Inklusion seine eigenen Hürden und Dilemmata mit sich. So stellen sich Fragen wie: Sollte eine Person mit Anorexie an Jom Kippur fasten? Oder: Dürfen autistische Jugendliche ihre Tablets am Schabbat benutzen?
Die Fragen scheinen endlos zu sein, und erst in jüngster Zeit haben Rabbiner und Poskim (jüdische Rechtsentscheider) begonnen, sich dieser Thematik intensiv zu widmen. Doch bereits in der Tora finden sich Hinweise auf psychische Belastungen – von den suizidalen Gedanken des Propheten Elijahu bis zu König Schauls emotionalem Leid. Das jüdische Recht ignoriert die Herausforderungen der Psyche keineswegs. Wie also behandelt die Halacha das Thema psychische Gesundheit und bietet Betroffenen Orientierung?
Bereits in der Tora finden sich Hinweise auf psychische Belastungen
Die Bibel hält Erzählungen parat, die aus heutiger Sicht als Darstellungen psychischer Probleme interpretiert werden könnten. Ein besonders oft zitiertes Beispiel ist König Schauls Leid. Die Bücher Schmuel beschreiben Episoden, in denen Schaul von einem »bösen Geist von Gʼtt« gequält wird (1. Schmuel 16,14). Die Diener bemerken den Kummer des Königs und schlagen vor, einen Musiker zu suchen, der ihn mit dem Klang einer Leier beruhigt.
Sollte eine Person mit Anorexie an Jom Kippur fasten?
So wird David, der spätere König, herbeigerufen, um für Schaul Musik zu spielen: »Und es geschah, wenn der böse Geist von Gʼtt über Schaul kam, nahm David die Harfe und spielte mit seiner Hand. So wurde Schaul erfrischt, und es ging ihm besser, und der böse Geist wich von ihm« (1. Schmuel 16,23).
Diese Erzählung zeigt ein frühes Bewusstsein dafür, wie Musik emotionales Leid lindern kann. Moderne Wissenschaftler interpretieren Schauls Symptome als mögliche bipolare Störung. Seine schwere Melancholie wurde von Phasen extremer Erregung begleitet, die als manische Episoden gedeutet werden könnten. Kurz nach seiner Salbung durch den Propheten Schmuel gerät Schaul in Ekstase: »Und als sie auf den Hügel kamen, sah er eine Gruppe von Propheten auf sich zukommen. Da ergriff ihn der Geist Gʼttes, und er geriet in Ekstase unter ihnen.«
Entfremdung von Realität und sozialen Erwartungen
Ein weiteres als manisch interpretiertes Ereignis tritt gegen Ende von Schauls Herrschaft auf, als er in wütender Eifersucht David verfolgt: »Als er nach Naiot in Rama kam, kam auch über ihn der Geist Gʼttes, und er geriet in Ekstase, bis er Naiot in Rama erreichte. Dann zog er seine Kleider aus und sprach in Ekstase vor Schmuel; und er lag nackt da, den ganzen Tag und die ganze Nacht.« Schauls überraschendes Verhalten, das für einen Monarchen äußerst unangemessen ist, zeigt eine mögliche Entfremdung von der Realität und den sozialen Erwartungen, die mit einer psychotischen Episode in Verbindung gebracht werden könnte.
Der Talmud umfasst 2711 Seiten und behandelt nahezu jeden Bereich des Lebens: Kann man eine Sukka auf einem Esel bauen? Wie verhält es sich mit dem Auszupfen von Haaren am Schabbat? Darf eine Person eine Dattelpalme heiraten? Da sollte man annehmen, dass die Weisen viel über psychische Gesundheit zu sagen hatten. Doch erstaunlicherweise gibt es im Talmud weniger Material über psychische Erkrankungen als über das Ei, das an einem Feiertag gelegt wurde.
Allerdings ignoriert der Talmud das Thema nicht vollständig. Er führt das Konzept des »Schoteh« ein, einer Person mit erheblichen kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen. Im Traktat Chagiga wird der Schoteh durch spezifische Verhaltensweisen definiert: »Wer gilt als Schoteh? Wer allein in der Nacht umhergeht, wer die Nacht auf einem Friedhof verbringt und wer seine Kleider zerreißt« (Chagiga 3b).
Der Schoteh ist von bestimmten Geboten befreit und kann nicht als Zeuge auftreten
Der Schoteh wird als eine Person beschrieben, die nicht bei klarem Verstand ist und sich selbst oder ihr Eigentum gefährden könnte. Der Status eines Schoteh hat halachische Konsequenzen: So ist er von bestimmten Geboten befreit und kann nicht als Zeuge auftreten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Schoteh marginalisiert oder geringgeschätzt wird. Im Traktat Bava Batra findet sich eine bemerkenswerte Passage von Rabbi Jochanan: »Seit der Zerstörung des Tempels wurde die Prophetie den Propheten genommen und dem Schoteh und den Kindern gegeben.«
Rabbi Jochanan deutet hier an, dass Menschen mit veränderten Bewusstseinszuständen möglicherweise einen einzigartigen Zugang zum Gʼttlichen haben, ähnlich den prophetischen Visionen der Vergangenheit. Welche jüdisch-rechtlichen Prinzipien sind im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit relevant?
Das Prinzip des Pikuach Nefesch, das die Rettung eines Lebens über nahezu alle Gebote stellt, erstreckt sich auch auf die psychische Gesundheit. Wenn der psychische Zustand einer Person eine Gefahr für ihr Leben oder das anderer darstellt, können viele Gebote, einschließlich der Schabbat-Gebote, außer Kraft gesetzt werden, um notwendige Hilfe zu leisten.
Viele Gebote, auch Schabbat-Gebote, können außer Kraft gesetzt werden, um notwendige Hilfe zu leisten
Rabbi Ascher Weiss, eine zentrale zeitgenössische halachische Autorität, hat die Herausforderungen von Menschen mit Zwangsstörungen im religiösen Leben thematisiert. Eine Person mit einer Zwangsstörung könnte beispielsweise ein Gebet wiederholt sprechen, weil sie es als nicht perfekt genug empfindet – eine obsessive religiöse Strenge, die der Krankheit Vorschub leisten kann. Rabbi Weiss betont, dass es wichtig sei, zwischen echter religiöser Strenge und zwanghaftem, schädlichen Verhalten zu unterscheiden. In solchen Fällen sollten medizinische Empfehlungen befolgt werden – selbst wenn dies bedeutet, bestimmte religiöse Gebote nicht einzuhalten.
Das Prinzip des Pikuach Nefesch erstreckt sich auch auf die psychische Gesundheit.
Psychische Gesundheit ist für jüdische Rechtsgelehrte noch ein relativ neues Feld. Doch Organisationen wie Maaglei Nefesch leisten bereits Pionierarbeit, indem sie Schulungen für Gemeindeleiter anbieten und helfen, religiöse Barrieren für Betroffene abzubauen. Hoffentlich werden Rabbiner und Gemeindeälteste weiterhin auf die Werte des Judentums – Mitgefühl, Heiligkeit des Lebens und Gemeinschaftssinn – zurückgreifen, um psychische Gesundheit besser zu verstehen und zu unterstützen. Denn es heißt: »Sorge in der Seele eines Menschen? Er soll sie durch ein gutes Wort in Freude verwandeln« (Mischlei 12,25).
Die Autorin ist Talmudlehrerin bei dem europaweiten jüdischen Lernprogramm Ze Kollel. Sie hat an der Hebräischen Universität Jerusalem, der Yeshivat Hadar sowie den Instituten Paideia und Pardes studiert.