Exil

Harte Schule in Ägypten

Edward John Poynter: »Israel in Ägypten« (1867). Öl auf Leinwand. Guildhall Art Gallery London Foto: dpa

Obwohl wir Kinder der Moderne das nicht gerne hören, haben unsere Taten Folgen, und das auch im Diesseits – so lehrt es die Tora. Ja, wir lieben unsere Autonomie, und wir wollen selbst entscheiden, ob wir uns an die Gebote G’ttes halten oder nicht. Und wir lehnen es zudem ab, die Konsequenzen zu tragen, die sich aus dieser Haltung ergeben.

Sünden Doch die Tora, obwohl stets zeitgemäß und modern, kann mit einer solchen Haltung nichts anfangen, denn die Taten des Menschen haben definitiv ihre Bedeutung – ob die Folgen dieser Taten nun Belohnung oder Strafe sind. Zwar ist die Verbindung zwischen Aufrichtigkeit oder Sünde und Belohnung oder Strafe im Diesseits für uns nicht eindeutig zu erkennen, denn den Bankräuber zum Beispiel trifft auf seinem Fluchtweg keineswegs der Blitz.

Dennoch sind Belohnung und Strafe eine reale Angelegenheit, und zwar nicht nur für das Individuum, sondern auch für ganze Völker. So lesen wir immer wieder (zum Beispiel im Buch Richter oder in den zwei Büchern Samuel aus dem Tanach), wie das Volk Israel wegen seiner Sündhaftigkeit seine Hoheit für einige Jahrzehnte verlor, von einem anderen Volk unterworfen und sogar unterdrückt wurde.

Die bekanntesten Beispiele »nationaler Bestrafung« wegen der Sündhaftigkeit großer Teile des Volkes sind natürlich die Zerstörungen der beiden Tempel Jerusalems, des ersten durch die Babylonier und des zweiten durch die Römer. Klar ist also: Die Tora gesteht dem Menschen weder auf persönlicher noch auf nationaler Ebene eine konsequenzlose Autonomie zu.

Haggada Doch wie passt das ägyptische Exil in dieses Modell? Gibt es irgendeine schreckliche Sünde, aufgrund derer das Volk versklavt werden musste? Manche Kommentatoren suchen eine solche Sünde, aber diese Suche fällt nicht leicht. Hingegen finden wir eine Stelle in der Pessach-Haggada, in der behauptet wird, dass »der Heilige, gepriesen sei Er, das Ende der Gefangenschaft bedacht hat, um zu vollbringen ... Deine Nachfahren werden Fremdlinge sein, zu Knechten gemacht und unterdrückt werden, 400 Jahre.« Danach sollen die Nachfahren »sogleich« wegziehen.

Wenn das Volk wegen Missetaten ins Exil gehen musste, dann müsste die Erlösung aus diesem Exil auch an die Bedingung einer ernsthaften Umkehr geknüpft sein; vorher dürfte die Erlösung eigentlich gar nicht kommen! Denn falls Letztere automatisch geschieht, ohne dass irgendetwas vom Volk erwartet wird, dann wird es von seinen Fehlern auch nicht ablassen, und die Sünde – und damit das Exil – wird sich wiederholen.

bund Im obigen Zitat aus der Haggada kam die Erlösung aber doch automatisch; sobald die 400 Jahre abgelaufen waren, wurde das Volk unmittelbar erlöst. Das Zitat aus der Haggada verweist auf den »Bund zwischen den Stücken«, ein Bund, den G’tt mit Awraham laut dem 15. Kapitel des 1. Buch Mose schloss. Dort versprach G’tt dem Awraham Nachfahren, die »von deinem Leibe kommen« sollen, versprach ihm außerdem, dass daraus ein Volk entstehen wird, und sicherte den Nachkommen Awrahams das Heilige Land zu.

Nur ist in dieses Versprechen eine merkwürdige Klausel eingeflochten, die bereits in der Haggada zitiert wurde (1. Buch Mose 15,13): »Du sollst sicher wissen, dass deine Nachfahren Fremdlinge sein werden in einem Lande, das nicht ihnen gehört; und man wird sie zwingen, zu dienen, und demütigen 400 Jahre lang.«

Awraham wird hier nicht zurechtgewiesen, und auch von einer Sünde ist nicht die Rede. Wieso wird ihm dann versichert, dass seine Nachfahren versklavt werden, und wieso werden sie nach genau 400 Jahren erlöst? Und weswegen müssen sie so sehr unter dem schweren Joch der ägyptischen Versklavung leiden?

Kleingedrucktes Irgendwie passt das ägyptische Exil nicht in das herkömmliche Modell der Belohnung und Bestrafung unseres Volkes. Es wirkt sogar so, als ob die Versklavung in Ägypten gar keine Strafe ist, sondern zu den guten Nachrichten des Bundes gehört, aber warum? Man könnte die ägyptische Versklavung mit den Geschäftsbedingungen von Versicherungen vergleichen, die des Öfteren im Kleingedruckten ganz unten oder auf der Rückseite des Vertrages stehen. Keiner liest sie, aber sie bestimmen schlussendlich, was zu welchem Zeitpunkt unter welchen Umständen versichert ist.

Tatsächlich sieht es so aus, als ob das ägyptische Exil für das Volk unentbehrlich war – aber warum? Der obige Bund, den G’tt mit Awraham schloss, bildet eine von verschiedenen Stufen der Auserwählung Awrahams. Auf einer anderen Ebene, im 1. Buch Mose 18,9, lernen wir, weswegen Awraham und mit ihm das spätere jüdische Volk auserwählt wurde: »Denn ich habe ihn dafür erkoren, dass er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm befehle, des Ewigen Weg einzuhalten und zu tun, was recht und billig ist, damit der Ewige auf Awraham bringe, was Er ihm verheißen hat.«

Awraham war nicht der einzige Gerechte auf Erden, aber er ging einen Schritt weiter als die, die persönlich aufrichtig waren. Awraham wurde auserwählt, weil er seine aufrechten Werte auch weitervermittelte, weil er »seinen Kindern und seinem Haus« befehlen wird, den Weg G’ttes zu gehen und Zdaka u-Mischpat, Gerechtigkeit und Recht, zu üben.

Gebote Dieses Festhalten an G’ttes Geboten könnte der Schlüssel zu dem Problem sein, das hier diskutiert wird. Als G’tt Awraham verkündete, dass seine Nachfahren versklavt werden, ist die Grundlage für diese Ankündigung keine Sünde. Die Versklavung ist also keine Strafe, sondern gehört zum Bund – vielleicht, weil diese Versklavung eine wesentliche und unentbehrliche Rolle in der Entwicklung des Volkes spielt. Die Tora nennt Ägypten den »eisernen Ofen« (5. Buch Mose 4,20). Dort wurde das Volk geschmiedet.

Doch weshalb musste das Volk überhaupt versklavt werden und leiden? Weshalb mussten die Nachfahren Awrahams leiden? Damit sie seinen Auftrag erfüllen können. Awraham war der erste und erfolgreichste Vertreter G’ttes aller Zeiten. Sowohl Gläubige als auch als Skeptiker, Monotheisten oder Götzendiener fanden in Awraham einen wohlwollenden Lehrer und einen liebevollen Freund.

G’tt wählte Awraham aus, damit er ein Volk hervorbrachte, das auf den Prinzipien der Frömmigkeit, des Rechts und der Gerechtigkeit begründet ist. Das Volk soll auf Grundlage dieser Werte nach dem Wort G’ttes leben, Ihm dienen und sich Ihm annähern. Hier aber liegt das Problem. Wie können wir, deren größte Sorge Steuererhöhungen oder Schwankungen auf den Aktien- und Immobilienmärkten sind, wirklich das Leid der Armen begreifen? Wie können die Sorgen der Unterdrückten auch unsere Sorgen werden, wie kann das Leid der Schwachen und Kranken uns angehen?

erfahrung G’tt sagt: Damit deine Nachkommen, lieber Awraham, dieses große Volk werden können, müssen sie zunächst in Ägypten »trainieren« und die Bitterkeit der Armut, der Versklavung und der Unterdrückung kennenlernen. Dieses Erlebnis wird sie dann ewig begleiten. Damit sie die Erfahrungen im »eisernen Ofen« nicht vergessen, werden sie jährlich nicht nur den Auszug und die Erlösung feiern, sondern auch der Versklavung gedenken.

Somit dient der Seder nicht nur zur Erinnerung an unsere Geschichte, sondern auch zur Realisierung der jüdischen Aufgabe in der Geschichte.

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