Alljährlich hören wir zu Pessach die Haggada, die uns den Auszug aus Ägypten erzählen lässt. Manche Stellen lesen wir, andere werden gesungen. Neben dem Ma Nischtana ist wahrscheinlich das Dajejnu das bekannteste Pessachlied. Zum ersten Mal im 9. Jahrhundert im Siddur von Sa’adja Gaon erwähnt, beginnt es mit den Worten »Kama ma’alot towot lamakom alejnu« – »Wie zahlreich sind die Stufen der göttlichen Güte uns gegenüber«. Es beschreibt die Taten des Ewigen am jüdischen Volk während des Auszugs. Liest man den Text einmal durch, könnte man meinen, dass die Kinder Israels unendlich dankbar und froh darüber waren, aus Ägypten auszuziehen.
Doch dieser Wochenabschnitt zeigt uns die andere Seite der Geschichte. Zwar sind die Kinder Israels aus Ägypten entflohen und somit frei, aber von Freude und Euphorie ist wenig zu sehen. Viermal erwähnt der Wochenabschnitt, dass sie sich beklagen und einen Aufstand gegen Gott und Mosche versuchen. Sei es, dass sie Angst vor ihren Verfolgern hatten oder dass es ihnen an Essen und Trinken mangelte, immer beschweren sie sich bei Mosche. Und sobald er in seiner neuen Funktion als Troubleshooter ein Problem löst, entsteht schon wieder ein neues. Mosche muss sich erneut diesen Protesten aussetzen, die so weit gehen, dass er Angst davor hat, vom Volk gesteinigt zu werden.
Göttliche Hilfe Am Anfang der Haggada, gleich nach dem Ma Nischtana, lesen wir die Passage Avadim Hajinu. Sie erzählt davon, dass wir Sklaven in Ägypten waren und mit göttlicher Hilfe befreit wurden. Doch die Haggada verheimlicht uns, wie es unseren Vorfahren während des Auszugs erging und wie sie sich benahmen.
Der heutige Wochenabschnitt hingegen zeigt uns die Auswanderer, ohne etwas zu beschönigen. Er präsentiert einen Haufen von Sklaven, die gerade in die Freiheit entkommen sind, jedoch mit der neuen Situation nicht umgehen können. Schonungslos schildert der Text die Ängste und Defizite der Kinder Israels, ihr mangelndes Vertrauen und ihren Wunsch nach Sicherheit, in der sie in Ägypten gelebt zu haben glauben.
Sie sagen zu Mosche, dass sie zurück wollen, um Ägypten – und damit ihren früheren Herren – zu dienen, anstatt in der Wüste zu sterben. Auch die angeblich so vollen Fleischtöpfe und das viele Brot in der Sklaverei ist dem Volk lieber als die neue Freiheit und der damit verbundene zeitweilige Hunger. Die Sklaverei, die noch kurz zuvor der Alltag dieser Menschen war, scheint völlig vergessen.
Doch gab es für die früheren Sklaven tatsächlich volle Fleischtöpfe in Ägypten? Die meisten Kommentatoren der Tora sind der Meinung, dass es nur Wunschdenken der Entflohenen war, eine Illusion. Der Midrasch Schemot Raba schreibt, dass die Kinder Israels das Fleisch nur sahen, es aber nie aßen, weil es den Ägyptern vorbehalten war. Wenn das zutrifft, stellt sich die Frage, warum die Flüchtlinge so eine Nostalgie entwickeln, obwohl sie sich der Logik nach doch freuen müssen, der Sklaverei endlich entkommen zu sein.
Nechama Leibovitz (1905–1997) erklärt diese Nostalgie mit der Tatsache, dass die Kinder Israel sich an den Wohlstand erinnern, der im Land herrschte und permanent präsent war, an dem sie aber keinen Anteil hatten. Doch in der Wüste angekommen und nur von Sand, Bergen und kargem Bewuchs umgeben, scheint den Menschen dieser vermeintliche Wohlstand viel besser zu gefallen als die harte und kahle Realität.
Umweg Beim Betrachten der Tatsache stellt sich die Frage, warum Gott in all seiner Macht die Kinder Israels nicht direkt aus der Sklaverei in das verheißene Land führt, sondern sie den Umweg über die Wüste machen lässt. Wäre es nicht für alle Beteiligten einfacher, wenn die Flüchtlinge, die gerade ihre Freiheit erlangt haben, sofort in ihre neue, alte Heimat wandern könnten?
Doch hier kommt die göttliche Pädagogik ins Spiel. Rambam (um 1138–1204) schreibt im More Nevuchim, dass der Auszug der Israeliten aus der bequemen Sklaverei in die unbequeme Freiheit und die damit verbundenen Schwierigkeiten eine wichtige lehrhafte Komponente haben.
Der Ewige versucht die Kinder Israels zu erziehen. Erst mit der Bewältigung des neuen, harten Lebens in der Wüste können die Israeliten in das gelobte Land einziehen. Rambam schreibt: »Der Übergang von schwerer Arbeit zu Ruhe ist viel angenehmer als das dauerhafte Verbleiben in Ruhe«.
So scheint es verständlich, dass die harte »Wüsten-Schule« das Volk gestärkt und es auf das neue Leben im eigenen Land vorbereitet hat. Aus der Sicht des Ewigen war es notwendig, die Kinder Israels mit schwerer Arbeit und der harten Realität der Wüste zu konfrontieren, damit sie später für das Land kämpfen und es einnehmen können. Laut Rambam kann ein Mensch, der sein ganzes Leben lang damit verbracht hat, Sklave zu sein und Ziegel herzustellen, nicht gegen einen Riesen kämpfen. Deshalb lässt der Ewige das Volk Israel in die Wüste ziehen und führt es nicht direkt ins gelobte Land.
Selbstständigkeit Diese Tatsache macht auch den langen Aufenthalt in der Wüste klar. Denn es braucht Zeit, bis die Symptome des Sklavendaseins verschwunden sind. So etwas geschieht nicht von heute auf morgen. Die vielen Jahre in der Wüste dienen dem Volk dazu, neue Fähigkeiten zu erlernen: für sich zu kämpfen und für sich selbst zu sorgen, ohne dabei auf seinen Herrn oder auf Gott angewiesen zu sein.
Die Haggada schreibt, dass wir uns in jeder Generation betrachten sollen, als seien wir selbst aus Ägypten ausgezogen. Auch viele von uns heute können eine Menge vom Auszug erzählen, zwar nicht unbedingt aus der Sklaverei und nicht unter so krassen Bedingungen wie unsere Vorfahren es taten, aber trotzdem von einem Auszug ins Ungewisse, in ein fremdes Land. Im heutigen Wochenabschnitt finden wir vielleicht die Antwort darauf, wie unser Auszug sich angefühlt hat. Aber vielleicht entdecken wir auch die Hoffnung, dass, je mehr Zeit vergeht, unser Auszug immer stärker in den Hintergrund tritt und wir ein neues, freies und selbstständiges Leben führen können.