Es ist äußerst aufschlussreich, der Frage nachzugehen, warum bestimmte Prophetenabschnitte (Haftarot) zur Lesung an den Hohen Feiertagen gewählt wurden. Warum wird die Geschichte von der Geburt Samuels und den Gebeten seiner Mutter Hanna am ersten Tag von Rosch Haschana gelesen? Es scheint, als wolle dieses Prophetenkapitel uns deutlich machen, welches die Kennzeichen wahren Betens sind und wie wichtig es ist, von Hanna zu lernen, die Routine des Lebens zu durchbrechen und neue Wege des Daseins zu suchen. Hanna ist kinderlos. Nach vielen Jahren der Ehe nimmt Elkana, ihr Mann, eine zweite Frau, Penina, ins Haus, um so für die Fortsetzung der Familie zu sorgen. Jedes Jahr empfindet Hanna ihre Vereinsamung stärker. Trotz der Liebe ihres Mannes scheint ihr das Leben sinnlos. Dies auch, weil die kinderreiche Penina auf sie herabsieht. Aber was ist zu machen? Hannas Kinderlosigkeit wird als von Gott gegeben hingenommen: »Denn der Ewige hat ihren Schoß verschlossen« (1,5-6).
Verhalten Hanna ist nicht bereit, sich mit ihrem Geschick abzufinden. Sie will um eine Änderung kämpfen. Und sie betritt das Heiligtum, um zu beten. Der Talmud betont, dass Hanna ihre Seelenpein und Frustration im Gebet mit Gott ausgedrückt hat.
Die biblisch-jüdische Tradition erwartet von betenden Menschen ein aufrichtiges Verhalten Gott gegenüber. Verwirrende Gefühle gilt es nicht zu unterdrücken, sondern im Gespräch mit Gott klar zu überdenken. Dabei heißt es natürlich, die nötige Bescheidenheit zu bewahren. Dreimal nennt sich Hanna eine »Magd«: Sie macht deutlich, wie unbedeutend sie in der Gegenwart von Gottes Allmacht ist. Hanna ist auch die Erste, welche Gott den »Gott der Heerscharen« nennt, also einen Ausdruck benutzt, der mehr als jeder andere die Größe Gottes bezeichnet.
Es ist bezeichnend für Hannas Gebet, dass sie trotz ihres bescheidenen »Selbst«-Bewusstseins in Gottes Präsenz ihr Anliegen in klaren, überzeugenden Worten schildern und für ihr Leben eine grundlegende Änderung fordern kann. Trotz ihrer »Schwäche« im Vergleich mit Gott sind ihre Worte prägnant und ausdrucksvoll. Auch Abraham sprach, als er um die Rettung Sodoms betete, klare Worte, und er klagte Gott sogar an: »Sollte der Richter aller Erde nicht Recht üben?« (1. Buch Moses 18,25) – und all dies, obwohl er sich seiner Ohnmächtigkeit voll bewusst war: »Doch bin ich nur Staub und Asche« (18,27). Auch wir sollten lernen, unsere Anliegen überzeugend und klar vor Gott zu bringen – aber dies doch mit der nötigen Be-
scheidenheit zu tun. So etwa wie Rabbi Levi Itzchak von Berditschew, der trotz aller Unterwürfigkeit gegenüber Gott es gar wagte, den Ewigen zu einem »Din Thora« (rabbinisches Gericht) zu bitten, um Sein Verhältnis zum Volke Israel dort gründlich abzuklären.
Bitte Auch Hanna begnügt sich nicht damit, um ein Kind zu bitten. Sie fragt sich in ihrem Gebet, was sie tun könne, um eines Kindes würdig zu sein. Und sie verspricht, dass sie das Kind – falls sie Mutter wird – dem Dienste Gottes übergeben wird. Wenn Gott ihr einen Sohn gibt, so gibt sie ihn Gott zum Dienst (1,11). Der betende Mensch fordert in der biblisch-jüdischen Tradition nicht nur Hilfe von Gott, sondern er verlangt von sich selbst aktive Mithilfe bei der Erfüllung seiner Wünsche. Der berühmte Satz »Gott hilft dem, der sich selbst hilft« scheint zynischen Charakter zu haben, aber richtig verstanden ist er Ausdruck biblischer Lebensauffassung. Damit Gott hilft, muss der Mensch auch selbst alles in seiner Möglichkeit Stehende tun, um die Erfüllung seiner Wünsche zu erreichen. Wie wir sehen, war das berühmte Gebet der Hanna kein einfaches Bittgebet. Hanna überdachte mit Gott ihre Situation und überlegte sich, was sie von Gott erwarten konnte und was sie selbst dazu beitragen sollte, um des Kindes, um das sie flehte, würdig zu sein. Und Gott erhörte ihr Gebet.
Hanna hat für ihre Zukunft gebetet und gewirkt. Aus all den erwähnten Gesichtspunkten istklar, weshalb der Prophetenabschnitt von der Geburt Samuels so bedeutend ist und sich so sehr für den Jahresanfang eignet. An Rosch Haschana sollen wir uns wie Hanna unsere Lebenspläne überlegen und mit uns zu Gericht gehen. Im Gebet sollen wir uns fragen, was wir tun müssen, um unserem Leben die erhoffte Richtung zu geben. Im Dialog mit Gott sollen wir dann – klar, aufrichtig und intensiv, aber auch demütig und bescheiden – um Seine Hilfe bitten. Und immer sollen wir daran glauben, dass uns viele Lebenswege offen stehen und dass wir keineswegs routinemässig den begonnenen Weg fortsetzen müssen. Vieles kann im Leben geändert werden. Durch unseren mutigen und sinnvollen Einsatz – und mit der Hilfe Gottes.