Zwei Abenteurer, John und Jack, suchen in der Wüste nach Gold. Nachdem sie den ganzen Tag lang unter der gleißenden Sonne umhergewandert sind, bauen sie ihr Zelt auf und legen sich schlafen. Einige Stunden später weckt John seinen Freund auf. »Jack, schau mal in den Himmel und sage mir, was du siehst.« Jack schaut nach oben: »Ich kann Millionen von Sternen sehen.« »Was sagt dir das?« Jack überlegt einen Augenblick und antwortet: »Astronomisch gesehen sagt es mir, dass es Millionen von Ga-laxien gibt, und wahrscheinlich Billionen Planeten. Astrologisch gesehen sagt es mir, dass der Saturn gerade im Sternbild des Löwen ist. Zeitlich gesehen bedeutet es, dass es ungefähr viertel nach drei sein müsste. Aus theologischer Sicht ist es ein Zeichen dafür, dass der Herr allmächtig ist, und wir klein und unbedeutend sind. Meteorologisch betrachtet, werden wir morgen wohl einen wunderschönen Tag haben. Und was sagt es dir?« Nach einem kurzen Schweigen sagt John: »Es sagt mir, dass du ein Idiot bist.« Jack sieht John überrascht an. »Warum redest du so zu mir?«, fragt er. »Weil es dir immer noch nicht aufgefallen ist, dass jemand unser Zelt gestohlen hat.«
Josef Alles Ansichtssache. So verschieden die Perspektive, so unterschiedlich die Erkenntnis. Das gilt auch für die Geschichte von Josef, einer der dramatischsten Berichte der Tora. Erst vor Kurzem haben wir im Wochenabschnitt gelesen, wie er sich nach Jahrzehnten der bitteren Trennung seinen Brüdern zu erkennen gibt. Es sind die Brüder, die ihn im Alter von 17 Jahren mit Gewalt gefangen, in eine Grube geworfen und dann als Sklaven an ägyptische Händler verkauft haben.
Im Midrasch wird beschrieben, wie Josef bitterlich weinte, als er von Israel nach Ägypten gebracht wurde. Dort wurde er fälschlich der versuchten Vergewaltigung an der Frau seines Herrn beschuldigt. Er wurde verurteilt und mit Gefängnis bestraft. Vom 18. bis zum 30. Lebensjahr war er ganz allein in einem Verließ, ohne jeglichen Besuch oder Kontakt nach draußen.
Nach der Zeit im Gefängnis machte er eine bemerkenswerte Karriere: Er wurde zum Vizekönig ernannt, führte die Regierungsgeschäfte der damaligen Supermacht Ägypten. In seiner Amtszeit kam es dann zum Wiedersehen mit seinen Brüdern, und nach mehreren Begegnungen war endlich die Zeit für Versöhnung gekommen.
»Josef konnte seine Gefühle nicht beherrschen«, steht im Wochenabschnitt Wajigasch (1. Buch Moses 44,18–47,27) ge-
schrieben. Er schickte alle seine Assistenten hinaus, sodass kein Fremder dabei war, als er sich seinen Brüdern zu erkennen gab. Und er sagte zu seinen Brüdern: »Ich bin Josef! Ist mein Vater noch am Leben?« Seine Brüder waren derartig geschockt, dass sie nicht antworten konnten. Dann sprach er zu ihnen: »›Bitte kommt näher zu mir‹. Als sie nah bei ihm standen, sagte er: ›Ich bin Josef, euer Bruder – ihr habt mich nach Ägypten verkauft.‹« Und sogleich fügte er hinzu, dass sie nicht verzweifelt sein sollten, sich keine Vorwürfe zu machen hätten. »Ihr habt mich nicht hierher verkauft, denn G’tt hat mich vorausgeschickt, um Leben zu retten.«
Reaktion Warum diese beschwichtigende Reaktion? Man würde eigentlich erwarten, dass so ein Mann voller Bitterkeit ist. Eigentlich hätte Josef Wut und Rachegefühle spüren können. Stattdessen spricht er mit beruhigender Stimme zu seinen Brüdern und bittet sie, nicht verzweifelt zu sein! Wie ironisch – die Täter sind zu Opfern geworden, sie sind traurig und fühlen sich elend. Und das Opfer tröstet die Täter!
Man könnte meinen, dass Josef völlig abgeklärt war. Seine Erfahrungen hatten ihn hart wie einen Stein werden lassen, unberührt. Er wurde bestimmend, konzentriert, mächtig, und hat einfach die Welt der Gefühle außer Acht gelassen. Er funktioniert nur noch mit dem Kopf, nicht mit seinem Herzen, so wie es bei vielen Überlebenden der Schoa ist, die ihre Gefühle ausschalten, um weiterleben zu können.
Dies würde jedoch nicht mit der Beschreibung Josefs in der Geschichte übereinstimmen. »Josef konnte seine Gefühle nicht beherrschen«, steht in der Tora. Tatsächlich wird keine andere bedeutende Persönlichkeit in der Bibel als so verletzlich beschrieben. In der biblischen Erzählung über ihn sehen wir ihn bei acht Gelegenheiten weinen. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass es sich hierbei um einen groben Menschen handelt. Ganz im Gegenteil. Er ist voller Lebenslust, liebt die Welt. Er ist ehrgeizig, gütig, ausgeglichen und leidenschaftlich.
Erzählung Wie wir eine Geschichte erzählen, die Worte, die wir benutzen, bestimmen die Bedeutung, die diese Geschichte für uns hat. Dieselbe Geschichte kann von zwei verschiedenen Menschen auf zwei verschiedene Arten erzählt werden, und sie wird für jeden der beiden anders sein. Die Tatsachen bleiben, aber die Art und Weise, wie sie diese erleben und interpretieren, variiert mit den Worten, die sie benutzen, um die Geschichte zu erzählen.
Es gibt eine bekannte Richtung in der Psychologie, die als »narrative Therapie« bekannt ist. Sie hilft dem Patienten, aus seinen oder ihren Erfahrungen eine Erzählung zu machen. Dies ermöglicht es ihnen, den Schwerpunkt nicht auf die negativen Ereignisse zu legen. Diese Richtung wurde ursprünglich von dem Australier Michael White zusammen mit seinem Freund und Kollegen David Epston aus Neuseeland in den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt. Ihre Herangehensweise wurde weltweit mit der Veröffentlichung ihres Buches Narrative Means to Therapeutic Ends im Jahr 1990 bekannt.
Dessen Genesis kann man im Wochenabschnitt Wajigasch finden. Josef, der zu seinem eigenen Therapeuten wurde, nahm all seine Erfahrungen und machte daraus eine Erzählung, die heilend wirkte und ihn aufbaute.
Wer Josefs Worte an seine Brüder näher betrachtet, stellt fest, dass er ein Wort in der Geschichte verändert. Und diese einzelne Veränderung hat für ihn die ganze Geschichte verändert. Eine fürchterliche Episode wurde Teil einer Erzählung, die bedeutungsvoll und förderlich war. Er wurde als Sklave verkauft. Das ist eine Tatsache. Darüber lässt sich nicht streiten. Aber er sagt: »Es wart nicht ihr, die mich hierher geschickt habt, sondern G’tt.«
Der Unterschied ist entscheidend: Wenn man verkauft wird, ist man ein passives Opfer. Sklaven werden verkauft. Häuser werden verkauft. Firmen und Gegenstände werden verkauft. Wenn man entsandt wird, ist man ein aktiver Teilnehmer – man wird ausgesucht, irgendwohin geschickt zu werden, weil man über die Ressourcen verfügt, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen.
Hat Josef Schmerz empfunden? Ja. Tränen? Ja. Verzweiflung? Nein! Fühlte er sich gelähmt? Nein! Josef war nie ein Opfer seiner Umstände. So seltsam die Ereignisse in seinem Leben auch waren, so überzeugt war Josef davon, dass G’tt ihn dorthin entsandt hatte, um eine Aufgabe zu erfüllen. Ob in einer Grube, als Sklave oder als Gefangener, er war dort G’ttes Botschafter, von G’tt ausgesucht, um unter den gegebenen Umständen, etwas zu erreichen.
Und als er zum mächtigsten Mann der Welt wurde, fühlte er immer noch so – er war der Bote G’ttes. Die Umstände hatten sich verändert, die Software war anders, aber die Hardware seines Lebens blieb so wie sie war. Er war ein »Schaliach«, ein Botschafter des G’ttlichen.
Sichtweise Jeder hat sein Päckchen im Leben zu tragen. Vielen von uns wurde Leid zugefügt, ist Unglück widerfahren. Die Tatsachen können nicht immer verändert werden. Aber die Art und Weise, wie wir die Geschichte erzählen, macht den großen Unterschied aus. Unsere Version der Geschichte unseres Lebens bestimmt unsere Sichtweise auf das, was geschehen ist, und wie wir damit umgehen.
So wie Josef finden wir uns alle mal in einer »Grube« wieder, fühlen uns ab und zu wie Sklaven und haben manchmal das Gefühl, in einem Gefängnis zu sitzen. Aber es liegt in unserer Hand zu entscheiden, ob wir in diese Situationen verkauft wurden, oder vielleicht dorthin entsandt wurden, um Licht an einen dunklen Ort zu bringen – die Bestimmung jeder Existenz.
Menschen mögen Sie verletzt haben, Sie haben wahrscheinlich enttäuschende Situationen erlebt, es mag unfaire Umstände gegeben haben. Aber denken Sie an Josef. »Nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern G’tt«. Es sind nicht die Menschen, die Ereignisse und Umstände, die eine dunkle Welt schaffen, sondern G’tt. Er hat uns an viele interessante Orte geschickt. Weil wir bemächtigt sind, dort eine besondere Aufgabe zu erfüllen.
Chassid Vor Kurzem sprach der Tolner Rebbe, Rabbiner Yitzchak Weinberg, über den Lubawitscher Rebben. Er fragte, welchen Unterschied es zwischen Breslov und Chabad gäbe. Seine Antwort war folgende: Ein Chassid aus Breslov findet sich in der Hölle wieder.
Rabbiner Nachman von Breslov hatte einmal seinen Anhängern gesagt, sie sollten alle lange Pejot, Schläfenlocken, haben, damit er sie, wenn der Tag komme, daran aus der Hölle ziehen könne. Als dieser Chassid nun die Hitze der Hölle zu spüren begann, fing er an zu schreien: »Vater, Rebbe, hilf mir!« Und siehe da, der heilige Reb Nachman erschien. Er hielt ihn an den Schläfenlocken fest, und zog ihn aus der Hölle heraus.
Nun kam ein Chabad-Chassid in den Himmel. »Hast du die Tora gelernt, so wie ein Jude sie lernen sollte?«, wurde er gefragt. »Nicht genug«. »Hast du gebetet, wie ein Chassid beten sollte?« »Nicht wirklich.« »Hast du getanzt, so wie man im Leben tanzen sollte?« »Nein.« »Dann fahr zur Hölle!« Er folgte der Anweisung. Aber als er begann, die Hitze zu spüren, schrie er: »Rebbe, Rebbe, hilf mir!« Und der Rebbe erschien. Er sah dem Chassid in die Augen, nahm einen Dollar aus der Hosentasche, gab ihn dem Chassid: »Hatzlacha in deiner Schlichut, viel Erfolg bei deiner Aufgabe hier!«
In den Augen des Rebben war jeder Mensch ein Schaliach, ein g’ttlicher Gesandter, ungeachtet des Ortes seiner »Schlichut«. Auch zu denen, die der Meinung waren, in der Hölle zu sein, sagte er: »Ihr wurdet nicht verkauft, ihr wurdet entsandt!«
Schachtel Es gibt eine Geschichte von einem Mann, der vor einiger Zeit seine drei Jahre alte Tochter dafür bestrafte, eine Rolle goldenen Geschenkpapiers verschwendet zu haben. Das Geld war knapp, und er wurde wütend, als seine Tochter versuchte, damit eine Schachtel zu dekorieren, um sie als Chanukkageschenk zu verwenden. Dennoch brachte das kleine Mädchen am nächsten Morgen ihrem Vater das Geschenk und sagte: »Dies ist für dich, Papa.« Dem Mann war sein Wutausbruch peinlich, aber er wurde wieder ungehalten, als er bemerkte, dass die Schachtel leer war. Er schimpfte: »Weißt du nicht, dass, wenn man jemandem ein Geschenk macht, auch etwas drin sein muss?« Das kleine Mädchen sah ihn mit tränenerfüllten Augen an und sagte: »Oh Papa, die Schachtel ist ganz und gar nicht leer. Ich habe Küsse hineingepustet. Sie sind alle für dich, Papa.« Der Vater war am Boden zerstört. Er legte die Arme um sein kleines Mädchen und bat sie um Vergebung.
Nur kurze Zeit später kam das Kind bei einem Unfall ums Leben. Viele Jahre bewahrte der Vater diese goldene Schachtel neben seinem Bett auf, und wann immer er traurig und verzweifelt war, nahm er sich einen der unsichtbaren Küsse heraus, und dachte an die Liebe des Kindes, welches sie dort hineingetan hatte.
In wirklichem Sinne hat jeder von uns einen goldenen Behälter erhalten, gefüllt mit Liebe und Küssen, von unseren Kindern, unseren Verwandten, Freunden und von unserem Schöpfer, von G’tt. Es gibt einfach keinen anderen Besitz, den man haben kann, der wertvoller ist als dieser. Josef wachte jeden Morgen auf, betrachtete sein Leben, und manchmal sah er nichts weiter als eine leere Schachtel. Wenn er aber tiefer schaute, fand er in der Leere einen Kuss. Er fand dort die Liebe G’ttes, der ihn an diesen Ort, in diese Umstände entsandt hatte, und der dort bei ihm war, um die Dunkelheit in Licht zu verwandeln. Als sein Zelt gestohlen wurde, konnte er plötzlich Millionen von Sternen sehen.
Der Autor ist Direktor des Jüdischen Bildungszentrums Berlin.