Rosch Haschana, das Neujahr des jüdischen Kalenders, das alljährlich am ersten Tag des Monats Tischri begangen wird, ist ein Fest, an dem vielfältige Anfänge und Endpunkte zyklisch ineinanderlaufen. Nicht nur der Abschluss der Sommerjahreshälfte des Landes Israel und der Beginn von dessen Winterjahreshälfte gehen hier nahtlos ineinander über, sondern auch der größere Kreislauf von Weltbeginn und Weltabschluss, von Schöpfung und Gericht treffen in einem harmonischen Ganzen ehrwürdig zusammen.
So erscheint uns an Rosch Haschana auch alles Geschehende unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, herausgehoben aus dem Strom der Zeit, fast wie ein Stillstand des Seins, halb ernst, halb freudig. Eine Konzentration der königlichen Erhabenheit Gottes ist es, die durch die eindringliche Stimme des Schofars unsere Herzen und unseren Geist ergreift.
Aus diesem Grunde gemahnt uns Rosch Haschana, wie der selige Oberrabbiner des Commonwealth, Jonathan Sacks, stets betonte, auch an unsere Sterblichkeit oder, philosophischer ausgedrückt, an die Kontingenz des Lebens und die Unstetigkeit allen Daseins außerhalb des transzendenten Daseins des Schöpfers selbst.
erwachen Dieser Gerichtscharakter des hohen Tages bedingt es, dass wir tief in uns hineinblicken. Denn nach traditionellem Verständnis wird zu den Hohen Feiertagen von oben bestimmt, was im kommenden Jahr geschehen wird, sei es gut oder schlecht. Kabbalistisch formuliert: Je nachdem, wie viel »It’aruta diletata«, »Erwachen von unten, von irdischer Seite«, die Menschen zu dieser Jahreszeit zeigen, desto mehr segensreiche »It’aruta dile’ejla«, »Erwachen von oben, von himmlischer Seite«, wird ihnen und der Welt im anbrechenden Jahr entgegenfließen.
Und doch ist die Idee, dass Gott zu einem einzigen Zeitpunkt des Jahres die Geschicke der Schöpfung in ihre Bahnen lenkt, überraschend. Im Traktat Rosch Haschana 16a lernen wir nämlich in einer Baraita: »›Alle werden an Rosch Haschana gerichtet. Ihr Urteil aber wird an Jom Kippur besiegelt.‹ So sind die Worte Rabbi Meirs. Rabbi Jossi aber sagt: Der Mensch wird an jedem Tag gerichtet, denn es heißt: ›Du gedenkst seiner an jedem Morgen.‹ Rabbi Nathan schließlich sagte: ›Der Mensch wird in jedem Augenblick gerichtet, denn es heißt: ›Selbst in Augenblicken prüfst Du ihn.‹«
Die Idee, dass Gott zu einem einzigen Zeitpunkt des Jahres die Geschicke der Schöpfung in ihre Bahnen lenkt, ist überraschend.
Auf den ersten Blick scheinen diese drei tannaitischen Aussagen sich zu widersprechen: Werden wir nur einmal im Jahr gerichtet oder doch täglich oder gar in jedem Moment? Und falls wir tatsächlich unablässig gerichtet werden, wofür benötigen wir dann Rosch Haschana und Jom Kippur?
Die rabbinische Tradition ist ihrem Wesen nach dialektisch. Darum scheuen die Ausleger auch nicht davor zurück, Spannungen zwischen verschiedenen Meinungen auszuhalten oder aufkommende Widersprüche auf ganzheitliche Weise zusammenzubringen und zu harmonisieren.
prozess Der vorliegende Fall wird daher üblicherweise so aufgelöst, dass alle drei Meinungen einander ergänzen. Der Ewige richtet den Menschen demnach mit zunehmender Intensität: in jedem Moment, für den Tag als Ganzes verstärkt und zu Beginn des Jahres, zu Rosch Haschana und Jom Kippur, am gründlichsten. Demnach ist das Gericht Gottes ein fortwährender Prozess mit unterschiedlichen, einander sukzessive vertiefenden Abschnitten.
Man soll jeden Tag in Teschuwa verbringen und ihn leben, als wäre er der letzte.
Wenn aber das göttliche Gericht derartig gestaltet ist, muss sich auch die Umkehr des Menschen, die Reinigung des Herzens und die Arbeit am Charakter, der »Tikkun Hamiddot«, ganz parallel zu diesem Prozess schrittweise entwickeln.
Darum finden wir im talmudischen Literaturkanon auch mehrmals einen Gedanken Rabbi Elieser ben Hyrkanos’ (1. Jahrhundert n.d.Z.) tradiert, der da lautet: »Rabbi Elieser sagt: ›Kehre einen Tag vor deinem Tod um – in Teschuwa, Umkehr und Reue.‹ Da fragten die Schüler den Rabbi Elieser: ›Ist dem Menschen denn der Tag seines Todes offenbar?‹ Da antwortete Rabbi Elieser: ›Umso mehr also: Der Mensch möge sich jeden Tag in Umkehr üben, denn wer weiß, vielleicht wird er bereits morgen sterben. Und so wird er alle seine Tage in Teschuwa verbringen‹« (Talmud, Schabbat 153a).
Idealerweise beinhalte also jeder Tag im individuellen menschlichen Leben bereits einen Aspekt des Gerichts und der Charakterarbeit. So zu leben, als wäre jeder Tag der letzte, impliziert für Rabbi Elieser nicht, dass man sich der ausschweifenden Fröhlichkeit hingebe (vgl. Jeschajahu 22, 12–14), sondern sich gerade in Einkehr, Umkehr und demütiger Selbstbesinnung übe.
waage In der Tradition des Mussar, der jüdisch-ethischen Schriften, hat man darum die Praxis des »Cheschbon Nefesch«, der Seelenrechnung, eingeführt. Nach altem Brauch sollte jeder Jude sich allabendlich hinsetzen und in sich schauen, den Tag durchgehen und eine jede Tat, jedes gesprochene Wort auf der Waage der Güte wiegen. Intensiviert wird diese Seelenschau am Ende eines jeden Monats, steigt sodann auf neue Höhen im gesamten Monat Elul, bevor sie ihren Höhepunkt zu den sich anschließenden Hohen Feiertagen erreicht.
So hängt der inwendige Reinigungsprozess der Geschöpfe also nicht allein an den Zehn Tagen der Umkehr. Diese sind viel eher der besonders bedeutungsreiche Anfang und Endpunkt eines jahrelangen, ja lebenslangen Vorgangs. Denn Rosch Haschana möchte nicht nur heute und morgen erlebt werden, sondern seine Funken mit abnehmender Intensität auch durchs ganze Jahr und durch das ganze Leben eines jeden Juden getragen wissen. »Bechol derachecha daʼehu« – »auf all deinen Wegen sollst du Ihn erkennen« (Mischle 3,6).
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Halacha an der School of Jewish Theology der Uni Potsdam.