Der sechste Buchstabe des hebräischen Alphabets, der Buchstabe Waw, hat einige Besonderheiten: Zum einen ist er ein eigenständiges Wort und bedeutet ins Deutsche übersetzt »und«. Zum anderen kann dieser Buchstabe die Zeitform eines Wortes verändern. So wird das Wort »haja« (es war) zu »wehaja« (es wird sein), und »jehi« (es werde) wird zu »wajehi (es war/ es ereignete sich).
Unsere Weisen lehren, dass jede Stelle in der Schrift, die mit »es wird sein« beginnt, ein Zeichen dafür ist, dass die darauffolgende Episode Freude bringt. Und jede Stelle, die mit »es war« beginnt, spricht dafür, dass die darauffolgende Episode Leid bringt.
So beginnt das Buch Esther mit den Worten »Es begab sich (wajehi) in den Tagen von Achaschwerosch« (1,1), und dann folgt ein versuchter Genozid am jüdischen Volk.
Unser Wochenabschnitt beginnt mit den Worten: »Es wird sein (wehaja), wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird dein Gʼtt halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat (…) in dem Land, das er dir geben wird (…). Gesegnet wirst du sein vor allen Völkern« (5. Buch Mose 7, 12–14).
name Spannenderweise bestehen die hebräischen Buchstaben des Wortes wehaja (Waw, Hej, Jud und Hej) aus denselben Buchstaben wie die hebräischen Buchstaben des Gʼttesnamens (Jud, Hej, Waw, Hej). Dieser Gʼttesname ist der Name, der in der Tora für das barmherzige und wundersame Handeln Gʼttes steht.
Der Gʼttesname besteht aus vier Buchstaben, von denen drei unterschiedlich sind. Dies ermöglicht zwölf Buchstabenkombinationen. In der Kabbala werden die zwölf verschiedenen Buchstabenkombinationen der verschiedenen Gʼttesnamen den zwölf Monaten zugeordnet. Diese haben ihre entsprechenden Sternzeichen, und jedem Sternzeichen wird ein Stamm der zwölf Stämme Israels zugeordnet. Dies wird gemacht, um den Ausdruck jeder besonderen Zeit für den Gʼttesdienst zu nutzen.
Die Kombination des Gʼttesnamens, die identisch mit dem ersten Wort unserer Parascha ist (wehaja), ist dem Monat Tischri zugeordnet. In jenem Monat vollzieht sich das gʼttliche Gericht mit Rosch Haschana, den zehn Tagen der Reue und Jom Kippur als Finale der zehn Tage.
Die Weisen lehren allerdings, dass das Gericht erst an Schemini Azeret, nach dem Sukkotfest, vollständig abgeschlossen ist. Sukkot ist im Gebet als die »Zeit der Freude« bekannt. Das Sternzeichen ist das Sternzeichen Waage. Und der Stamm Israels, der dem Monat Tischri entspricht, ist Ephraim.
Es ergibt sich ein einheitliches Bild. Der Monat des Gerichts ist auch der Monat der Freude. So überrascht es nicht, dass das Sternzeichen Waage, das Symbol des Gerichts, und die Buchstabenkombination des Gʼttesnamens alternativ auch »Es wird sein«, ein Zeichen für darauffolgende Freude, bedeutet.
MESSIAS Auch der berühmte Vers bezüglich der Zeit des Messias aus dem Prophetenbuch Sacharja lautet: »Es wird sein (wehaja), da wird Gʼtt zum König über die ganze Erde, an jenem Tag wird der Ewige eins und sein Name eins sein« (14,9) – die Vollendung der Menschheitsgeschichte mit einem Ausdruck der Freude.
Die Buchstabenkombinationen der zwölf Stammesnamen haben ebenfalls eine tiefere Bedeutung, die den besonderen Zusammenhang zum Stamm unterstreicht.
So besteht im Hebräischen das Wort »Naftali« aus denselben Buchstaben wie »Tfilin«, und »Menasse« zum Beispiel besteht aus denselben Buchstaben wie das Wort »Mischna«. »Ephraim« besteht aus denselben Buchstaben wie »Jud merape« – »heilende Zehn«, eine Anspielung auf die spirituelle Heilung, die in den zehn Tagen der Reue erreicht werden kann.
SEGEN Nach all den spirituellen Zusammenhängen möchte ich zum Eingangsvers unseres Wochenabschnitts zurückkehren: »Es wird sein, wenn ihr auf meine Gebote hören werdet … Gesegnet wirst du sein vor allen Völkern.«
Die ernüchternde Wahrheit ist, dass wir nur selten die hier beschriebene Stufe und den damit verbundenen Segen erreichten. Immer steht etwas im Weg: eine Kraft, die uns nicht einfach so und mit Leichtigkeit die Gebote und Satzungen der Tora halten lässt, Zweifel und aus psychologischer Perspektive vielleicht auch Selbstschutz. (Die Gebote fordern viel – und der Gewinn ist nicht sofort direkt sichtbar.)
Der Mensch will gut sein, aber er will auch frei sein, und er will sicher sein. Er will der Individualität freien Lauf lassen, nicht unter dem Gewicht der Verantwortung vor Gʼtt zerbrechen und doch Gʼtt nicht aus den Augen verlieren.
Nicht ohne Grund sind die Religionen, die aus dem Judentum hervorgegangen sind und die Welt erobert haben, das Christentum und der Islam, zwar Religionen, die den Gʼtt Awrahams, Jizchaks und Jakows verehren, sich aber von den Geboten der Tora distanzieren, und zwar in dem Sinne, dass sie die Relevanz der Gesamtheit der Gebote oder ihren gʼttlichen Ursprung verneinen.
Man könnte sagen: Die Welt wollte den Gʼtt der Tora, aber nicht die Gebote der Tora. Wie lässt sich der teilweise drückende Konflikt zwischen Halacha und Individualität auflösen?
gebote Die klassische Antwort würde lauten: Auch wenn man nicht in der Lage ist, alle Gebote zu halten, so soll man trotzdem versuchen, zumindest das zu tun, wozu man in der Lage ist, mit dem Ziel, die gesamte Halacha, so gut es geht, zu leben. Nimm die Gebote auf dich, soweit es geht, und du wirst reichlichen Lohn von deinem Schöpfer bekommen und die Ankunft des Messias beschleunigen.
Ich möchte einen weiteren Umgang aufzeichnen: Vor 200 Jahren lehrte Rabbi Nachman: »Das persönliche Gebet ist die höchste Stufe (des Gʼttesdienstes), denn alles, was der Mensch braucht, spirituell oder materiell, kann er beim Schöpfer direkt erbitten, in einem persönlichen Gespräch, wie mit seinem besten Freund« (Likutay Moharan II,25).
Wer im direkten Gespräch mit Gʼtt immer wieder sagt: »Ich sehe den Weg nicht, aber Du, bitte führ mich!«, kann davon ausgehen, auf dem individuell besten Seelenpfad durch dieses Leben geführt zu werden. Auf dem individuellen Weg zu den Geboten.
Der Autor ist Sozialarbeiter und hat am Rabbinerseminar zu Berlin studiert.
inhalt
Der Wochenabschnitt Ekew zählt die Folgen des Gehorsams der Israeliten auf. Wenn sie sich an die Gesetze halten würden, dann blieben die Völker jenseits des Jordans friedlich, und es würde sich materieller Fortschritt einstellen. Die bisherigen Bewohner müssen das Land verlassen, weil sie Götzen gedient haben – nicht, weil das Volk Israel übermäßig rechtschaffen wäre. Am Ende der Parascha verspricht Mosche, im Land Israel würden Milch und Honig fließen, wenn das Volk die Gebote beachtet und an die Kinder weitergibt.
5. Buch Mose 7,12 – 11,25