Die Corona-Pandemie bleibt eine schwere Zeit für uns alle. In Deutschland sind wir durch den Lockdown glücklicherweise weitgehend von den schlimmsten Folgen verschont worden – jedenfalls im Vergleich zu anderen Ländern, was die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 betrifft.
Doch plötzlich ist man mehr mit sich selbst und seinen Gedanken beschäftigt, vor allem, wenn man von zu Hause aus arbeitet. Fragen nach der eigenen Existenz und dem Sinn des Lebens werden lauter. Man ist sich seiner Sterblichkeit wieder bewusster geworden und sucht nach Antworten. Eine Reflexion ist unausweichlich.
Pandemie Wenn man die Jahre vor der Pandemie Revue passieren lässt, dann verging die Zeit viel zu schnell. Viele Dinge geschahen fast automatisch und gingen an uns vorbei, als ob sie Routine wären. Es war ein Leben des Reagierens; ein Lenken der eigenen Geschicke erschien manchmal kaum noch möglich.
Und plötzlich hat man durch die Corona-Krise alle Zeit der Welt.
Alles schien überladen zu sein mit den täglichen Aufgaben: Familie, Job, Haushalt. Ein wenig Zeit für sich selbst zu finden, war illusorisch.
Und plötzlich hat man durch die Corona-Krise alle Zeit der Welt. Für viele eine beängstigende Belastung, eine Herausforderung, auf sich selbst gestellt zu sein und über sich selbst nachdenken zu müssen. Uns Rabbinern geht es da nicht anders als anderen Menschen.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk brachte es der Historiker Michael Wolffsohn folgendermaßen auf den Punkt: Die Gesellschaft, sagte er, befinde sich in einer experimentellen Situation. In dieser Lage könne die Religion sehr viel beitragen, »gerade in ihrer Gebrochenheit«.
ENDLICHKEIT Dies betreffe konkret den Umgang mit der Endlichkeit des Menschen. »Wir verdrängen den Tod. Und insofern wäre es eben für die institutionalisierten Religionen eine große Chance gewesen – die besteht immer noch –, uns auf diesen Gedanken zurückzuführen.«
Doch Geborgenheit zu stiften in einer Zeit, die von uns soziale Distanz zu anderen verlangt, um sich nicht mit dem Virus zu infizieren, ist eine Herausforderung. Schließlich beruht die jüdische Tradition auf der Basis des Miteinanders, der Gemeinschaft.
Aber auch wir mussten uns daran gewöhnen, niemanden mehr sehen zu dürfen – ganze Familien hielten und halten Abstand voneinander, wenn sie nicht zum selben Haushalt gehören.
Um Orientierungslosigkeit abzufedern, sind wir als Rabbiner gefragt.
Dass so eine Situation selbst für erfahrene Rabbiner eine Herausforderung darstellt, muss wohl nicht betont werden. Eine Lösung war und ist es, einen Online-Austausch zu gewährleisten. So wurde der Pessach-Seder mit den Großeltern über Skype oder Zoom möglich. Auch ganze Gottesdienste wurden nebst unzähliger Schiurim (Unterrichtseinheiten) online gestellt.
Diese Umstellung brauchte aber ihre Zeit, und auch der Umgang mit dem Medium Internet musste erst durch neue Erfahrungswerte erprobt werden. Der Anfang ist getan. Die Frage, die sich stellt, ist aber, ob man auf diese Art und Weise wirklich eine Antwort auf die Problematik der sozialen Distanz gefunden hat.
TECHNOLOGIE Ob eine Gemeinschaft dadurch funktionieren kann und ob das Medium Internet der menschlichen Natur des Austauschs gerecht wird, wird noch zu beantworten sein. Hierfür werden vielleicht auch noch spezifischere Technologien zur Anwendung kommen müssen als bisher.
Doch trotz aller technischen Möglichkeiten bleibt die Frage: Können wir als Rabbiner Menschen in dieser kritischen Zeit auffangen und ihnen Geborgenheit geben? Ist es möglich, ihnen – wenn auch nicht im wörtlichen Sinn – eine Hand zu reichen und sie mit ihren Sorgen und Ängsten aufzufangen?
Ich persönlich denke, dass dies bereits geschieht. Das Internet scheint voll zu sein mit Plattformen, die Rabbinerinnen und Rabbiner unermüdlich aufnehmen und auf denen sie sich präsentieren. Nur ist die Umstellung sehr plötzlich erfolgt, und eine koordinierte Sortierung des Angebotenen steht noch aus.
Können wir als Rabbiner in dieser kritischen Zeit den Menschen Geborgenheit geben?
Hier werden neue Plattformen entstehen müssen, um das bereits Vorhandene besser präsentieren zu können. Auch muss das bereits existierende Angebot von den Gemeindemitgliedern angenommen werden. Viele sind so überfordert mit dieser Situation, dass sie gar nicht wissen, wo sie zuerst suchen müssen.
Um diese Orientierungslosigkeit abzufedern, sind wir als Rabbiner gefragt, die Suchenden besser und direkter auf uns aufmerksam zu machen. Lernen ist in der jüdischen Tradition bekanntlich etwas, das wir unser Leben lang fortführen. Darum ist meine Antwort auf die Frage, ob wir Menschen auffangen können, folgende: Unsere Schiurim (Unterrichte) und Gottesdienste anzunehmen und Geduld mit uns und sich selbst zu haben, ist eine Voraussetzung dafür. Der jüdische Weg beinhaltet ein beständiges Lernen – ein Leben lang.
KOTEL Zu vergleichen ist dieser Prozess vielleicht mit einem Besuch in Israel: Einige Menschen kommen in Israel an und eilen direkt zur Kotel, um eine spirituelle Erfahrung zu machen. Manche sind enttäuscht, wenn sie sich nicht sofort einstellt. Dabei übersehen sie die nötige Vorbereitung, den Weg, der einer solchen Erfahrung vorangeht.
Ich kann aber nichts sehen, wenn ich mein inneres Auge nicht vorbereitet, es nicht geschult habe. Hand in Hand, ob in Wirklichkeit oder virtuell, haben wir die Möglichkeit, gemeinsam große Herausforderungen zu bewältigen, um so viele Antworten wie möglich zu geben und uns selbst und anderen so viel Geborgenheit zu geben, wie es in diesen Zeiten eben möglich ist.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).