Ein guter Rechtsanwalt und gleichzeitig ein guter Jude zu sein, geht das? »Diese Frage stelle ich mir jeden Tag, wenn ich in die Kanzlei gehe«, sagte Harry Rothenberg zum Auftakt. Am Montag war der amerikanische Jurist und Rechtsanwalt aus New York City nach Berlin gereist, um den diesjährigen Hildesheimer Vortrag zu halten.
Rund 150 Gäste kamen an diesem Abend in den Senatssaal der Humboldt-Universität. Unter den Zuhörern waren neben dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sowie Rabbiner Joshua Spinner, Executive Vice President und CEO der Ronald S. Lauder Foundation, und Martin Heger, Dekan und Professor an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität.
Systeme Harry Rothenberg ging unter dem Titel »Wenn Systeme kollidieren: Professionelle Verantwortung und Gelegenheit im Gegensatz zum religiösen und moralischen Imperativ« zunächst auf die Herausforderung ein, vor der er als religiöser jüdischer Rechtsanwalt steht. »Ich fühle mich sowohl dem säkularen Recht als auch dem jüdischen Recht, der Halacha, verpflichtet«, sagte der Jurist.
Rothenberg fühlt sich sowohl dem säkularen Recht als auch der Halacha verpflichtet.
Auch wenn er viele Aspekte des jüdischen Rechts in der Rechtsprechung liberal-demokratischer Staaten wie den USA wiedererkenne, gebe es einen fundamentalen Unterschied: »Während das weltliche Recht stets auf die Aufklärung beziehungsweise Auflösung eines Falls hinarbeitet, ist die Zielsetzung des halachischen Systems die Wahrheitsfindung.«
Unrecht Dies bedeute: In der säkularen Rechtsprechung müsse es zwingend einen Freigesprochenen oder Verurteilten geben, um einen Fall ad acta legen zu können. Auch wenn dieses System für klare Verhältnisse sorge, habe es doch eine Schattenseite: zu Unrecht Verurteilte.
»2017 wurden 139 Menschen aus Gefängnissen in den USA entlassen, die zuvor aufgrund fälschlicher Verurteilungen eingesessen hatten«, so Rothenberg. Das Rechtssystem der Halacha hingegen wolle Fehlverurteilungen in jedem Fall vermeiden, weswegen es im Zweifel über die Wahrheit zu gar keinem Urteil komme.
Rothenberg, der sich intensiv mit der Tora und der jüdischen Gesetzeslehre befasst hat, erläuterte, zu welchen Konflikten ihn die Verpflichtung gegenüber beiden Rechtssystemen im Berufsleben führe. Der Rechtsanwalt, der sich auf das Gebiet des »Personal Injury Law«, also schwerer Personenschäden, konzentriert hat, schilderte zur Veranschaulichung den Fall eines Klienten: Der Beschäftigte eines großen Unternehmens hatte ihn kontaktiert, nachdem er an seinem Arbeitsplatz einen Unfall hatte. Ein Teil der Raumdecke war ihm auf den Kopf gefallen.
Nach einem Krankenhausaufenthalt und einigen Monaten Krankschreibung war der Beschäftigte in das Unternehmen zurückgekehrt. Nach drei Jahren schlechter Ergebnisse kündigte man ihm. Dagegen wollte der Mann Widerspruch einlegen.
Gutachten Rothenberg forderte von den behandelnden Ärzten ein Gutachten an. Und tatsächlich: Der Mann hatte durch den Deckeneinsturz einen schweren Gehirnschaden erlitten, der ihm die erfolgreiche Rückkehr in seinen Job unmöglich gemacht hatte.
Er kennt die Tricks der Versicherungen, wenn es um Entschädigungen geht.
»Die Anwälte des Unternehmens wiegelten zunächst ab«, erläuterte Rothenberg. »Aufgrund des ärztlichen Gutachtens sahen sie sich zum Einlenken gezwungen.« Das Angebot lag bei einigen Hunderttausend Dollar Entschädigung. Der geschädigte Angestellte freute sich, wollte das Angebot der Gegenseite akzeptieren.
Doch Harry Rothenberg hatte den Braten gerochen: »Ich kenne die Tricks der Versicherungen, wenn sie von einem finalen Angebot sprechen, ist noch wesentlich mehr drin«, sagte er. Im Endeffekt verhandelte der Anwalt eine Entschädigungszahlung in Höhe von drei Millionen Dollar.
Mandant Im Laufe der Verhandlungen ließ Rothenberg die Gegenseite immer wieder wissen, dass sein Mandant das Angebot ablehne. Dies entsprach allerdings nicht ganz der Wahrheit – wie der wiederholte Hinweis der Gegenseite, dass das neue Angebot auch das letzte sein würde. »Die Auseinandersetzungen über Zahlungen bei Personenschäden sind ein hartes Geschäft, die eine Seite blufft, die andere ebenso, Wahrheit und Unwahrheit werden zum Verhandlungsgegenstand.«
Obwohl sich sein Mandant über die Entschädigungssumme am Ende gefreut habe, frage er sich bis heute, ob es richtig war, dass er nicht ganz genau bei der Wahrheit geblieben war. Rabbiner Joshua Spinner dankte dem Rechtsanwalt für die Einblicke in seinen Berufsalltag. »Rothenburgs moralische Überlegungen sind real, er vertritt reale Menschen, hier geht es nicht um philosophische Gedankenspiele.« Der Rechtsanwalt mache deutlich, wie wichtig der Dialog zwischen weltlichem und jüdischem Recht auch heute sei.
Der Hildesheimer Vortrag wird einmal jährlich von einem renommierten Halacha-Gelehrten gehalten. Die Veranstaltung findet als Erinnerung an Rabbiner Esriel Hildesheimer statt, der 1873 in Berlin das erste orthodoxe Rabbinerseminar Deutschlands gegründet hatte.
Organisiert wird die Vortragsreihe seit 2013 von den Berliner Studien zum Jüdischen Recht gemeinsam mit dem Rabbinerseminar zu Berlin. 2018 hatte der Mediziner und Rabbiner Avraham Goldberg in der Humboldt-Universität gesprochen.