Talmudisches

G’tt betet zu sich selbst

Nach Raw betet G’tt: »Es sei Mein Wille, dass Mein Erbarmen Meinen Zorn überwiege (...).« Foto: Thinkstock

Die Gemara schildert im Traktat Berachot 7a einen wundersam anmutenden Sachverhalt. G’tt, so erklären uns dort einige Toragelehrte, empfange nicht nur unsere Gebete, sondern bete auch, und zwar – wie könnte es anders sein – zu sich selbst.

Warum tut G’tt dies? Es liegt doch alles in Seinen Händen: Die jüdische Tradition lehrt, dass es allein Sein ewiger Wille ist, der alles Geschaffene lenkt. Die Gemara versucht zunächst zu klären, was der Inhalt Seiner Gebete ist. Dabei beantwortet sie indirekt auch die Frage nach dem Warum.

Erbarmen »Was betet Er? (...) Raw sagte: ›Es sei Mein Wille, dass Mein Erbarmen Meinen Zorn überwiege, dass Mein Erbarmen sich auf (alle) Meine Eigenschaften erstrecke, dass Ich im Umgang mit Meinen Kindern nur die Eigenschaft des Erbarmens zeige und dass Ich sie nicht nach den Maßgaben der (strafenden) Gerechtigkeit beurteile (sondern nach denen des Erbarmens).‹«

Die biblischen Propheten und die rabbinischen Weisen zeigen an vielen Stellen, dass G’ttes Liebe Israel und alle Völker erfüllt. Vom Rambam und anderen jüdischen Philosophen lernen wir, dass menschliche Eigenschaften wie Erbarmen und Zorn als Metaphern für G’tt verwendet werden können, wenn sie auch nicht wörtlich zu verstehen sind.

In diesem Sinne kann es historische Folgen haben, wenn sich das jüdische Volk in Gedanken und Taten von G’tt entfernt. Möglicherweise reduziert G’tt Seine Güte (Chesed) uns gegenüber, auch wenn dies für den menschlichen Geist nicht immer nachvollziehbar ist. Seinem Wesen nach strahlt G’tt eigentlich nur positive Eigenschaften aus. Zorn ist eine Regung in Ausnahmefällen. G’tt möchte Taten vermeiden, die negative Folgen für uns haben. Deshalb betet Er.

Wortlaut Woher wissen wir nun aber, dass es dieser Wortlaut ist, den G’tt betet, fragt die Gemara weiter. Der Talmud führt dafür einen Zeugen an. »Rabbi Jischmael ben Elischa sagte: Einmal bin ich (an Jom Kippur) in das Allerheiligste getreten, um Räucherwerk darzubringen.« Da habe er den Ewigen auf einem erhabenen Thron sitzen sehen. Und G’tt sprach zu ihm: »›Jischmael, mein Sohn, segne Mich!‹ Ich entgegnete Ihm: ›Es sei Dein Wille, dass Dein Erbarmen Deinen Zorn überwiege, dass Dein Erbarmen sich auf (alle) Deine Eigenschaften erstrecke usw.‹ Und Er nickte mir (bestätigend) zu.«

Rabbi Jischmael war Kohen Gadol (Hohepriester). Der betritt bekanntlich an Jom Kippur ehrfürchtig den innersten Raum des Tempels, um Sühne für Israels Sünden zu erwirken.

Wie unsere Weisen berichten, wurde Rabbi Jischmael später zeitgleich mit dem Nassi des Sanhedrin, dem Vorsitzenden des Hohen Rates, im Krieg der Römer gegen Judäa hingerichtet. Rabbi Jischmael amtierte etwa zehn Jahre vor der Tempelzerstörung, also um das Jahr 60 n.d.Z. Warum aber hat Rabbi Jischmael, der heiligste Mann, am heiligsten Tag des Jahres am heiligsten Ort der Erde diese außergewöhnliche Erscheinung G’ttes?

Gschichte Verstehen lässt sich dies durch den geschichtlichen Anlass. Die Sünden Israels, die sich in grundlosem Hass, Zelotenmorden und anderen Übeltaten äußerten, erreichten in diesen Jahren ihren Höhepunkt. Dies führte zur schlimmsten Katastrophe, die das jüdische Volk bis dahin erlebt hatte: der Vernichtung des Tempels und der Ausweitung des Exils.

In diesem Rahmen ist es nur natürlich, dass G’tt versuchte, das aus Seinem Zorn erwachsende Unheil noch abzuwenden. »Jischmael, Mein Sohn, segne Mich!« Das heißt: »Sei Mir wie Mein Diener Mosche damals beim Goldenen Kalb, als er allein durch sein Gebet noch Sühne für das Volk bewirken konnte! Bete auch du Jischmael, Mein Sohn, und gib Mir einen weiteren Grund, das Übel noch aufzuschieben.«

Im Nachhinein verstehen wir, dass die Zerstörung nicht mehr aufzuhalten war. Doch offenbar hatte Rabbi Jischmaels Initiative dennoch eine mildernde Wirkung. »Und Er nickte mir zu.«

Nachruf

Förderer des katholisch-jüdischen Dialogs, aber auch harter Kritiker Israels

Papst Franziskus ist am Montag im Alter von 88 Jahren gestorben. Sein langjähriger Gesprächspartner, Rabbiner Jehoschua Ahrens, nimmt Abschied

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  24.04.2025 Aktualisiert

Chol Hamoed

Nur Mosche kannte die Freiheit

Warum das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten ängstlich war

von Rabbinerin Yael Deusel  17.04.2025

Geschichte

Waren wir wirklich in Ägypten?

Lange stritten Historiker darüber, ob die Erzählung vom Exodus wahr sein könnte. Dann kamen die Archäologen

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  17.04.2025

Berlin

Berlin: Gericht bestätigt fristlose Kündigung von Rabbiner

Das Berliner Arbeitsgericht hat die fristlose Kündigung eines Rabbiners wegen sexueller Belästigung eines weiblichen Gemeindemitglieds bestätigt

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Feiertage

Pessach ist das jüdische Fest der Freiheit - und der Frauen

Die Rolle und Verdienste von Frauen würdigen - dafür ist Pessach eine gute Gelegenheit, sagen Rabbinerinnen. Warum sie das meinen und welchen Ausdruck diese Perspektive findet

von Leticia Witte  11.04.2025

Exodus

Alle, die mit uns kamen …

Mit den Israeliten zogen noch andere »Fremde« aus Ägypten. Was wissen wir über sie?

von Sophie Bigot Goldblum  11.04.2025

Zaw

Das Volk der Drei

Warum zwischen Priestern, Leviten und gewöhnlichen Israeliten unterschieden wurde

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  11.04.2025

Stärke

An den Prinzipien festhalten

In der Haggada heißt es, dass Juden in jeder Generation Feinde haben werden. Klingt entmutigend? Soll es nicht!

von Rabbiner Raphael Evers  11.04.2025