Wo bin ich nur gelandet? Das Ambiente erinnert an den Bauch eines schlecht beleuchteten Immigrantenschiffs oder an den Mittagstisch der Einwanderungsbehörde. Ich stecke mitten in einer riesigen ungeduschten Meute, die sich unter flackernder Neonröhrenbeleuchtung zentimeterweise zur Kasse drängt. In meinem Einkaufswagen schwankt ein Turm von Lebensmitteln, die ich unter schwerem Ellenbogeneinsatz erkämpfen musste. Das Kassenpersonal bellt Befehle nach links und rechts, jemand tritt mir auf den großen Zeh, ich trete zurück.
Nach 40 Minuten im örtlichen Lidl-Markt sind meine Sitten völlig verroht, meine guten Manieren nicht mehr vorhanden. Ich schachere mit dem schlechtgelaunten Kassenpersonal selbst um die letzte zerquetschte Tomate, versuche, ein paar Plastiktüten umsonst rauszuschlagen, aber die Kassiererin klopft mir auf die Finger. Dass mich bloß keiner von den anderen Jidden hier sieht, die schnallen sonst sofort, dass sie die zweitklassige Ware hier morgen serviert bekommen. Was für eine blöde Idee aber auch, uns als Sponsoren für diese Woche auf die Kidduschliste einzutragen, wo wir doch völlig pleite sind. Aber da müssen wir jetzt durch. Würde bewahren und findig sein, heißt die Devise.
Petersilienbüschel Becher, billige Pappteller und ein paar abgestandene Flaschen Cola habe ich noch vom letzten Kindergeburtstag, koscheren Wein kaufe ich auf Pump beim Kosher King, der mir auch einen Haufen Essen mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum überlassen hat. Die grünlichen Stellen auf der Pastrami werden elegant mit Petersilienbüscheln verdeckt, die Challareste von letzter Woche schneide ich klein und backe sie wieder auf, das merkt kein Mensch.
Nun noch schnell Emma aus der Schule abholen. Ich lasse sie fertig angezogen vor der Tür warten, während ich schnell nach hinten zum Speisesaal husche, um die Kuchenreste vom freitäglichen glatt koscheren Kindervesper einzutüten. Hmm, diese Woche mit Schokocreme! Zu Hause nur noch rasch die Ränder abschneiden, Tortenspitze drunter, fertig ist das Kiddusch-Dessert.
Raumspray Der große Tag rückt heran, die Tische habe ich hingebungsvoll mit Blümchen dekoriert. Dafür musste ich mein Bouquet von unserem Hochzeitstag letzte Woche zerpflücken. Wohlweislich habe ich Raumspray mitgebracht, denn die Fischsektion des Tischs riecht eindeutig etwas zu fischig. Aber was soll’s.
Das Ganze läuft ab wie immer, kaum ist der Rabbiner mit seinem Sermon durch, stürzen sich alle aufs Buffet, und innerhalb von 15 Minuten ist alles vorbei. Restlos abgegrast. Völlig leergeräumt. Verschwunden auch sämtliche suspekten Fleischduftnoten und grünlich schillernden Schimmelstellen. Niemand hat etwas gemerkt. Aufatmend ziehe ich mich zurück und verdrücke mein mitgebrachtes Mittagessen, einige frugale Salzcräcker aus der Dose.
Sirenengeheul Aber ich kann mich noch nicht völlig entspannen, den ganzen Sonntag streiche ich verkrampft ums Telefon, lausche auf Sirenengeheul vor dem Fenster. Darmgrippe? Magendurchbruch? Brechreiz, irgendjemand? Aber nein, nichts von alledem. Es ist unglaublich, unsere Gemeinde scheint mit Magenwänden aus Gummi gesegnet zu sein. Alle haben meinen Kiddusch überlebt. Keine bösen Anrufe, keine Drohbriefe, wie mancher Caterer in der Stadt sie nach einer Simche erhält, wenn am nächsten Morgen die halbe Stadt flachliegt und sich unter Krämpfen windet. Alles schon dagewesen!
Gerade versinke ich entspannt mit einer Halbliterpackung Schoko-Splitter-Eiscreme in die Couchgarnitur vor dem Fernseher, da klingelt es durchdringend an der Tür. Ich schrecke zusammen. Zitternden Schritts, mit rasendem Herzen, wanke ich zur Tür und öffne. Ich blicke in einen riesigen Blumenstrauß, der Fleurop-Bote überreicht mir eine Grußkarte: Das Damenkränzchen der Synagoge bedankt sich überschwänglich für den »stimmungsvollen Kiddusch«. Ich muss einmal trocken schlucken. Dann greife ich nach meinem Handy und reiche bei meinem Chef per SMS die Kündigung ein. Morgen wechsele ich ins Cateringfach!