Der Mensch wurde am Berg Moria erschaffen. Danach brachte G’tt ihn in den Garten Eden. Dort stehen Bäume, von denen sich der Mensch ernähren kann. Es gibt aber auch zwei Bäume, deren Früchte dem Menschen nicht erlaubt sind: jene vom Baum der Erkenntnis und jene vom Baum des Lebens. Sie sind die einzigen Bäume, die nicht für den Menschen da sind. Warum darf er von den beiden Bäumen nicht essen? Was würde geschehen, wenn er es doch täte?
Wissen und Erkenntnis machen uns mächtig. Diktaturen verheimlichen Informationen oder verwehren den Zugriff. Zu dem, was das Volk nicht weiß, kann es keine Fragen stellen. Und wer es nicht gewohnt ist, zu wählen, dem fällt es schwer, Entscheidungen zu treffen. Andersherum gilt aber auch: Je mehr man weiß, desto schwerer fällt es, eine Entscheidung zu treffen. Anders als die anderen Geschöpfe verfügt der Mensch über den freien Willen. Unsere Fähigkeit zu lernen, hilft uns, die Vor- und Nachteile von vielem zu entdecken.
Entscheidung Nachdem Adam und Chawa vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, öffnen sich ihnen die Augen. Sie sehen zwar alles genauso wie früher, verstehen plötzlich aber auch das, was sie sehen. Für viele Kommentatoren ist der Baum der Erkenntnis auch der Baum des Willens. Der menschliche Wille war bisher nicht begrenzt. Der Mensch wusste zwar auch vorher schon sehr viel. Doch nun werden ihm weitere Dinge offenbart, die sich auf seine Entscheidungen auswirken.
G’tt erwartet vom Menschen, dass er das Gute wählt und das Böse nicht als Option in Erwägung zieht. Bevor der Mensch vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, wollte er nur das Gute. Der Entschluss, die Frucht zu essen, schuf eine neue Situation, in der der Mensch in seinen Entscheidungen verwirrt ist und sich erlaubt, das Schlechte zu bevorzugen. Seine Entscheidungsfähigkeit ist nicht mehr nur vom Willen beeinflusst, gut zu handeln. Er ist überzeugt, dass seine Entscheidung richtig ist, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er manchmal von bösen Ideen beeinflusst wird.
Der Mensch ist anders als alle anderen Geschöpfe. Kein weiteres Geschöpf erhält Anweisungen von G’tt. »Von allen Bäumen des Gartens magst du essen, aber vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, von dem sollst du nicht essen, denn an dem Tag, da du von ihm isst, musst du sterben« (1. Buch Mose 2, 16–17).
Der Baum der Erkenntnis öffnet für den Menschen mehr Möglichkeiten als allen anderen Geschöpfen. Nachdem sich Adams und Chawas Augen geöffnet haben, macht sich G’tt Sorgen um sie – und vertreibt sie aus dem Garten Eden. Die Gefahr, dass der Mensch jetzt auch noch vom Baum des Lebens essen wird, ist größer denn je.
Kopf Um sich für das Richtige zu entscheiden, soll man alles mit klarem Kopf und reinem Herzen prüfen. Man darf nicht seine körperlichen Triebe entscheiden lassen. Der Mensch darf nicht subjektiv, sondern er soll objektiv denken – und langfristig.
Der Rambam, Maimonides (1135–1204), erklärt, dass der Mensch vor dem Sündenfall zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden konnte. Jetzt kann er sogar zwischen dem Guten und dem Schlechten entscheiden. Der Baum des Lebens bekommt nach der Sünde des Menschen eine neue Bedeutung.
G’tt befiehlt Adam, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen (2, 16–17). Nach dem Sündenfall hat Er eine neue Sorge geäußert: »Da, der Mensch ist geworden wie unser einer im Erkennen von Gut und Böse. Und nun könnte er gar seine Hand ausschicken und auch vom Baum des Lebens nehmen und essen und ewig leben.«
Ein Mensch, der etwas Gutes tut, kann ein langes Leben genießen. Sein Leben ist voller Bedeutung, und je länger er lebt, umso besser ist es für die Welt. Aber das Leben eines Menschen, der Böses tut, sollte man begrenzen. Es muss einen Zeitpunkt geben, ab dem der Mensch darüber nachdenkt, ob er weiter dem falschen Weg folgt oder sich zum Guten kehrt.
Nachdem Adam und Chawa vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, besteht die Gefahr, dass sie auch vom Baum des Lebens essen – mit dem Ziel, Schlechtes zu tun. Das will G’tt auf keinen Fall. Wenn der Mensch ewig leben würde, dann gäbe er sich den unterschiedlichsten Genüssen hin, die nichts Gutes bringen. Das widerspricht dem Ziel der Schöpfung des Menschen. G’tt wollte von Anfang an, dass der Mensch in seinem Willen und seinen Taten gut bleibt. Jetzt, da er in der Lage ist, sich auch mit dem Bösen zu beschäftigen, ist es besser, er hat nicht die Möglichkeit, ewig zu leben.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.
Inhalt
Mit dem Wochenabschnitt Bereschit fängt ein neuer Jahreszyklus an. Die Tora beginnt mit zwei Berichten über die Erschaffung der Welt. Aus dem Staub der aus dem Nichts erschaffenen Welt formt der Ewige den Menschen und setzt ihn in den Garten Eden. Adam und Chawa wird verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der inmitten des Gartens steht. Doch weil sie – verführt von der Schlange – dennoch eine Frucht vom Baum essen, weist sie der Ewige aus dem Garten. Draußen werden ihnen zwei Söhne geboren: die Brüder Kajin und Hewel. Der Ältere, Kajin, tötet seinen Bruder Hewel.
1. Buch Mose 1,1 – 6,8