Von Jehoschafat, König von Jehuda, berichtet der Talmud (Makkot 24a und Ketuvot 103b), dass er, wenn er einen Toragelehrten sah, von seinem Thron aufstand, den Weisen umarmte und küsste und ihm zurief: »Mein Lehrer, mein Lehrer, mein Meister, mein Meister!«
Warum König Jehoschafat einen Toragelehrten zu ehren pflegte, liegt auf der Hand; der Monarch wollte das folgende Gebot der Tora erfüllen: »Vor einem greisen Haupt stehe auf und ehre das Angesicht eines an Weisheit Gereiften, und fürchte dich vor deinem Gott; ich bin der Ewige« (3. Buch Mose 19,32).
Außergewöhnlich ist freilich die Tatsache, dass König Jehoschafat den Toragelehrten umarmt und geküsst hat – dies schreibt das Gesetz nicht vor. Maimonides, der Rambam (1138–1204), der die zitierte Talmudstelle in seinem religionsgesetzlichen Kodex referiert, erwähnt den Kuss, lässt die Umarmung jedoch weg (Hilchot Melachim 2,5). Der Halachist Maimonides führt aus, dass ein König nur in seinen Privaträumen vor einem Toragelehrten aufstehen darf; anderswo hingegen darf er dies nicht tun – die Würde des Herrschers ist in der Öffentlichkeit stets zu wahren!
Das Aufstehen vor alten Menschen und vor Weisen hat zweifellos eine symbolische Bedeutung. Was zeigt diejenige Person, die sich erhebt? Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt: »Das Aufstehen überall scheint das Bereitsein anzudeuten, dem Willen des anderen tätig zu folgen.«
Die Verpflichtung aufzustehen beinhaltet mehr als nur eine symbolische Geste.
Die Verpflichtung aufzustehen beinhaltet allerdings mehr als nur eine symbolische Geste. Das verdeutlichte Israels einstiger Oberrabbiner Ovadia Yosef an einem Beispiel aus dem Alltag: Wenn ein alter Mensch oder ein Toragelehrter einen Bus betritt, und alle Sitzplätze sind bereits besetzt, so verlangt die Tora, dass jeder, der diese Situation erfasst, sofort aufsteht und seinen Sitzplatz freimacht.
Der babylonische Amoräer Raba erblickte einmal mehrere Menschen, die vor einer Torarolle aufstanden, nicht aber vor einem Toragelehrten, der an ihnen vorbeiging. Er bezeichnete diese Leute als dumme Menschen (Makkot 22b). Warum hielt er sie für dumm? Weil sie offensichtlich die wichtige und folgenreiche Interpretationsarbeit der Gelehrten nicht richtig zu schätzen wissen. Man kann behaupten, dass die Leute, die Raba als dumm bezeichnet hat, aus Unverständnis ein Gebot der Tora missachtet haben.
Ehren muss man übrigens nicht nur einen Toragelehrten, von dem Studierende noch Tora lernen können. Im Talmud (Menachot 99a und Berachot 8b) steht, dass ein Toragelehrter, der schuldlos sein Wissen vergessen hat, ebenfalls zu ehren ist: »Denn wir sagen: Die Tafeln und auch die Bruchstücke der (ersten) Tafeln liegen in der Bundeslade.«
Wie vergisst ein Gelehrter schuldlos sein Wissen?
Wie vergisst ein Gelehrter schuldlos sein Wissen? Raschi (1040–1105) erklärt: durch eine bestimmte Krankheit oder durch Sorgen um den Lebensunterhalt. Die Bruchstücke der Tafeln, die nicht mehr zu gebrauchen waren, erhielten einen Ehrenplatz – analog dazu sind auch solche Toragelehrten zu ehren, die ihr Wissen verloren haben.
Für die fromme Lebenspraxis ist wichtig zu wissen, dass sowohl nach Maimonides (Hilchot Talmud Tora 6,9) als auch nach dem Schulchan Aruch von Rabbiner Joseph Karo (Jore Dea 244,7) nichtjüdischen Greisen Hilfe gewährt und Respekt bezeugt werden muss. Rabbiner Samson Raphael Hirsch geht noch einen Schritt weiter, wenn er lehrt: »Dem Greisen und Weisen jeder Nation zeige Achtung, Ehrerbietung, Zuvorkommenheit« (Chorew 490).
Woher weiß Rabbiner Hirsch, dass wir dem Weisen jeder Nation Ehrerbietung zu erweisen verpflichtet sind? Vielleicht hat er diese Vorschrift aus der Tatsache abgeleitet, dass wir im Talmud (Berachot 58a) einen Segensspruch finden, der beim Anblick eines hervorragenden nichtjüdischen Gelehrten zu sprechen ist: »Gesegnet seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der menschlichen Wesen von Seiner Weisheit gegeben hat.«