Perspektive

Gottes Weitwinkel

Unter der Lupe: Wenn der Abstand stimmt, lässt sich alles erkennen – das große Ganze und jedes Detail. Foto: Fotolia

Beim Lesen der wöchentlichen Parascha schaut jemand, der einen G’ttesdienst vorbereiten oder einen Artikel schreiben soll, zunächst danach, was der Abschnitt »zu bieten hat«, um eine Drascha darauf aufzubauen. Gibt es etwas, was hervorsticht und die Aufmerksamkeit fesselt? Erschaffung von Menschen aus Staub, eine Sintflut, die Spaltung eines Meeres, ein goldenes Kalb – dies sind Beispiele für Dinge oder Vorgänge, die aus dem Rahmen des Üblichen fallen, die außergewöhnlich sind, die nicht nur rabbinisch und journalistisch eine Sensation sind.

Was ist nun das Besondere an Paraschat Chaje Sara? Besonders ist, dass es nichts Besonderes gibt. Dieser Wochenabschnitt liest sich wie der leise Ausklang der vorherigen Paraschiot. In Lech Lecha (vor zwei Wochen) führt Awraham einen Krieg gegen die vier mächtigsten Könige des Nahen Ostens – ihre Reiche spannen sich bis zum heutigen Aserbaidschan und zum Persischen Golf. Diese Schlachten waren Ereignisse von internationalem Belang. Es gab wohl keinen Menschen in der gesamten Region, der nicht direkt oder indirekt von diesem Krieg betroffen war. In Paraschat Wajera (vor einer Woche) wird eine ganze Region mitsamt ihrer Königreiche durch Schwefel- und Feuerregen dem Erdboden gleichgemacht – auch dies ein Ereignis, das die damalige Welt erschüttert haben dürfte.

Dies sind nun vor allem physische Begebenheiten, aber auch in den Innenwelten der Protagonisten ist viel geschehen. Es erscheinen Boten des Himmels, die dem alten Paar Awraham und Sara Nachkommen verheißen. Ein lang gehegter, und wohl auch schon wieder aufgegebener, Traum soll doch noch in Erfüllung gehen. Was das für ein kinderloses Nomadenpaar bedeutet, können wir uns heute kaum noch vorstellen.

Auslöser Und dieser Nachwuchs, Jitzchak ist sein Name, soll nun wenig später durch die Hand des eigenen Vaters getötet werden. Auch hier reicht unsere Vorstellungskraft kaum aus, die Bedeutung dieser – glücklicherweise nicht zum grausamen Ende geführten – Handlung für das seelische Leben dieser Familie auszumalen. Der Meinung einiger unserer Weisen entsprechend, soll dieses Ereignis sogar der Auslöser für Saras Tod gewesen sein.

Und nun ein Blick in die Parascha für diese Woche. Es geschieht im Grunde genommen nichts, was nicht alltäglich wäre. Selbst für unsere Verhältnisse heute ist fast alles, was wir in diesem Wochenabschnitt lesen, nicht außergewöhnlich. Es gibt Unsicherheit und Diskussionen über einen Begräbnisplatz. Das kennen viele von uns heute ebenso, wenn auch eher nicht mit Chittitern, sondern vielleicht mit den eigenen Verwandten oder der Friedhofsverwaltung. Es gibt Verhandlungen über einen Schiduch, als Awraham seinen Knecht Elieser in seine Heimat schickt, um für Jitzchak eine Braut aus der eigenen Familie zu finden. Heute findet die Suche eines Bräutigams oder einer Braut eher selten durch einen Heiratsvermittler statt, aber Diskussionen über das Ob, Wann, Wo und Wie der Hochzeitsfeier kennt auch heute wohl jedes Paar.

Kurz nach der Hochzeit seines Sohnes heiratet Awraham erneut und zeugt weitere Kinder. Dies wird nicht kommentiert, und wir erfahren auch kaum etwas über die neue Familie. Ein Vorgang wie dieser kann heutzutage genauso passieren, auch wenn so etwas nicht gern in der Öffentlichkeit diskutiert wird, vielleicht nicht einmal bei Familienfeiern, möglicherweise aber als Fußnote beim Nachruf.

So wie ganze Paraschiot – zum Beispiel die der vergangenen Wochen – der großen Politik gewidmet sind, ist die Parascha Chaje Sara in ihrer Gänze privaten internen Familienangelegenheiten vorbehalten. Diese Angelegenheiten, Tod eines geliebten Angehörigen und seine Beerdigung, Brautsuche für den Sohn, die Hochzeit, Liebe im Alter und die Geburt von Kindern, sind offensichtlich für die Menschen im unmittelbaren Umfeld von genauso großer, wenn nicht gar größerer Bedeutung wie Dinge, die das Land insgesamt betreffen. Das ist heute nicht anders. Am Tag der Hochzeit wird sich kaum ein Brautpaar für die aktuellen Nachrichten und Börsenkurse interessieren.

Trivial Es liegt wohl auch daran, wie wir Geschehnisse vor dem Hintergrund unseres Wissens und unserer Erziehung gewichten, dass der Eindruck entsteht, alles in dieser Parascha klänge so schrecklich trivial. Es keimt Verwunderung darüber auf, dass alltägliche Ereignisse, die in fast jeder Biografie vorkommen (können), dennoch in der Tora ihren Platz gefunden haben.

Die Tora ist ja häufig eher wortkarg, nur das Nötigste wird erwähnt. Oft wird etwas so knapp geschildert, dass wir in der schriftlich niedergelegten mündlichen Tora, dem Talmud und seinen Nachfolgewerken, ganze Traktate finden, die uns die Bedeutung einzelner Aussagen in der Tora erklären und verdeutlichen müssen. In Chaje Sara jedoch sehen wir, dass das Normale und Alltägliche offenbar grundsätzlich ebenso berichtenswert ist wie alles andere.

So wie uns die große Politik der damaligen Zeit aus Sicht der Tora geschildert wird, damit wir verstehen, warum die Welt so ist wie sie ist, werden uns auf derselben Ebene und mit demselben Wichtigkeitsgrad die privaten Höhen und Tiefen im Leben unserer Vorfahren geschildert. Der Mikrokosmos der familiären Abläufe in der Geschichte ist im Blickwinkel G’ttes nicht weniger wichtig als der Makrokosmos Weltgeschehen.

So wird uns deutlich vor Augen gestellt: Vor G’tt ist gleich wichtig, ob ein fremder König besiegt wird oder ob eine Verkaufsverhandlung für eine Grabstelle stattfindet. Vor G’tt ist gleich wichtig, was im Kleinen geschieht, wie das, was im Großen und Ganzen abläuft. Es gibt keinen Lebensbereich, der von g’ttlicher Prägung ausgeschlossen ist. Auch bei uns nicht.

Der Autor ist Rabbinatsstudent am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Chaje Sara beginnt mit dem Tod Saras und dem Kauf der Grabstätte »Mearat Hamachpela« durch Awraham. Dieser Kauf wird sehr ausführlich geschildert. Später beauftragt Awraham den Knecht Elieser, für seinen Sohn eine geeignete Frau zu suchen. Elieser findet in Riwka die richtige Partnerin für Jitzchak. Auch Awraham bleibt nicht allein. Er heiratet eine Frau namens Ketura. Schließlich stirbt er und wird in der Höhle begraben, in der auch Sara beigesetzt ist.
1. Buch Moses 23,1 – 25,18

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024

Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Die Tora verpflichtet jeden Einzelnen von uns, in der Gesellschaft zu Wachstum und Wohlstand beizutragen

von Yonatan Amrani  08.11.2024

Talmudisches

Planeten

Die Sterne und die Himmelskörper haben Funktionen – das wussten schon unsere Weisen

von Chajm Guski  08.11.2024