Und G’tt schied zwischen dem Licht und der Finsternis, und G’tt nannte das Licht Tag, die Finsternis aber nannte Er Nacht» (1. Buch Mose 1, 4–5). Diese Unterteilung des Tages in zwei Hälften, die der Ewige bereits ganz am Anfang vornahm, hat für die jüdische Tradition durchaus eine Vorbildfunktion.
Nach Ende eines jeden Schabbats wiederholen wir bei der Hawdala diesen Übergang von Tag und Nacht, Woche und Woche. Das stetige Bewusstsein, dass die Teile der Schöpfung verschieden sind, ist von grundlegender Bedeutung.
Doch neben der allgemeinen Einteilung in Tag und Nacht kennt die Tora auch die Einteilung des Tages in zwölf Stunden. Die wiederum werden in viermal drei Stunden zerlegt. Auch diese kleinere Zerlegung der Tageszeit hat im jüdischen Alltag Auswirkungen, etwa auf die Gebetszeiten.
Gemara Ausgehend von dieser Aufteilung des Tagesablaufs stellt die Gemara die faszinierende Frage, ob es denn auch eine bildliche Handlungsroutine G’ttes gebe, die mit unseren irdischen Stundeneinteilungen korrespondiert.
Eine Antwort darauf finden wir in Avoda Sara 3b: «Raw sagte: Der Tag hat zwölf Stunden. In den ersten drei beschäftigt sich der Heilige, gelobt sei Er, mit der Tora. In den zweiten drei Stunden richtet Er die Welt. Und sobald Er sieht, dass die Welt wegen ihrer Schuld zerstört werden müsste, erhebt Er sich vom Thron der Gerechtigkeit und setzt sich auf den Thron des Erbarmens. In den dritten drei Stunden ernährt Er die ganze Welt – von den gewaltigen Auerochsen bis zu den Insekteneiern. In den vierten drei Stunden spielt Er mit dem Leviathan, wie es (in Psalm 104,26) geschrieben steht: ›Den Leviathan erschufst Du, um mit ihm zu spielen.‹»
Diese kurze rabbinische Erzählung wirft zunächst mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Doch beim genaueren Hinsehen schimmert durch, dass es im metaphorischen Tagesablauf des Ewigen offenbar eine recht klare Linie gibt.
Die Abfolge von Toralernen, Richten und Ernähren spiegelt bekannte Prinzipien des talmudischen Denkens wider. Unseren Weisen zufolge ist die Tora nicht nur eine der ersten Schöpfungen des Ewigen, sondern auch das universale Werkzeug, mit dem Er die Welt erschuf, ordnete und ihr physikalische und ethische Prinzipien verlieh.
Torastudium G’ttes Torastudium ist demnach eine Art Vorbereitung auf Seine Richtertätigkeit, die am späteren Vormittag erfolgt. Denn um die Welt richten zu können, muss Er die von Ihm in der Tora verankerten Prinzipien der Gnade und der Gerechtigkeit anwenden. Das Richten selbst dient dazu, Schuld und Verdienste der Schöpfung festzustellen, auf deren Grundlage der ewige Richter die künftigen Geschehnisse für jedes Wesen bestimmt.
Dabei dient diese liebevolle, zum Teil allerdings züchtigende Weltlenkung G’ttes dem Wohl jedes Einzelnen. Der Ewige schiebt deshalb das Prinzip der Gerechtigkeit immer dann beiseite und folgt allein Seinem Erbarmen, wenn ein striktes Urteil die Zerstörung der Welt zur Folge hätte.
Nachdem die Urteile nun ergangen sind, beginnt in den nächsten drei Stunden des Tages ihre Vollstreckung. Demgemäß wird jedes Geschöpf, ob groß oder klein, mit dem ihm zustehenden Anteil an Nahrung und Kraft versorgt, die es für sein weiteres Bestehen benötigt.
Welt Ist auch das ausgeführt, und die Schöpfung befindet sich im momentan idealen Zustand, erfreut sich G’tt an dem, was Er erschaffen hat, so wie es heißt: «Der Ewige freut sich Seiner Werke» (Psalm 104,31). In diesem Sinne spielt Er auch mit dem Leviathan, dem größten aller Tiere, der in der Tradition die messianische Zeit und damit die Vervollkommnung der Welt symbolisiert.
Ein jeder Tag ist in G’ttes Augen also auch ein Abbild der Weltgeschichte, die sich im Kleinen alltäglich wiederholt. In diesem Sinne sagte Mosche Rabbenu: «1000 Jahre sind in Deinen Augen wie der gestrige Tag» (Psalm 90,4). Netanel Olhoeft