Herr des Universums! Wieder ist es extrem schwer geworden zu glauben, dass Du tatsächlich unter uns lebst. Erst vor wenigen Tagen wurden einige Deiner treuesten Diener kaltblütig ermordet. Naama und Eitam Henkin wurden in der Nähe von Itamar aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen, vor den Augen ihrer Kinder.
Ein paar Tage später wurde Aharon Banita auf dem Weg zur Kotel erstochen. Seine Frau Adele entkam, die Klinge des Mörders steckte noch in ihrer Schulter, als sie um Hilfe lief. Auch ihre zweijährige Tochter wurde verletzt. Im vergangenen Jahr ermordeten Terroristen mit großer Brutalität vier Gemeindemitglieder in einer Synagoge in Har Nof, Jerusalem. Niemand weiß besser als Du, dass ich diese Liste von Verbrechen, begangen in letzter Zeit in Deinem Heiligen Land, fortsetzen könnte.
Du hast keinen einzigen dieser Schlächter aufgehalten, sondern es zugelassen, dass die Mörder das Leben dieser Menschen – Ehemänner, Väter und einer Mutter – grausam auslöschten, während Du zusahst, ohne einen Finger zu rühren. Einige von ihnen waren auf dem Weg, eine Mizwa zu tun, zu Dir zu sprechen und an dem Ort, an dem einst der Tempel stand, Deine Größe zu preisen; doch auch andere wurden mit Pistolen, Messern und Beilen niedergestreckt, während sie im Gespräch mit Dir waren. Denkst Du nicht, dass das über das Maß des Erträglichen hinausgeht?
Synagoge Ich bin sicher, Du verstehst, dass ich unschlüssig war, ob ich an den darauffolgenden Tagen zur Synagoge gehen sollte. Der Schmerz war zu groß. Als ich dennoch in die Synagoge ging, fand ich eine Gemeinschaft von gläubigen Juden vor, die nicht verstehen konnten, warum ich gezögert hatte, heute mit Dir zu sprechen. Sie dachten bestimmt, ich hätte den Verstand verloren. Ich hingegen fragte mich, ob nicht sie es waren, die ein Problem hatten. War nicht meine Reaktion die einzig verständliche? Wie können wir weiterhin mit Dir sprechen nach allem, was passiert ist?
Obwohl ich nicht in die Herzen dieser Gläubigen blicken konnte, war ich fassungslos. Niemand verlor auch nur ein Wort über das Geschehene, und die Gebete waren wie immer äußerst langweilig. Wie ist das möglich, fragte ich mich? Haben wir den Warnruf nicht gehört? Warum spiegeln sich unsere tiefsten Emotionen – Schock und Verzweiflung – nicht in unseren Gebeten?
Gebete Und ich selbst war auch nicht besser. Sobald ich in der Synagoge war, sprach ich die Gebete wie sonst, ganz, als wäre nichts geschehen. Erst als ich diesen heiligen Ort verlassen habe, traf es mich wie der Blitz. Sind wir alle so gleichgültig geworden? Was ist los mit uns? Aber dann dachte ich: Ist es nicht wunderbar, dass die Gläubigen dennoch bereit sind, mit Dir zu sprechen? Zeigt es nicht einen ungeheuren Glauben, trotz alledem?
Doch gleich kam mir ein weiterer Gedanke: Erkennen wir Gläubigen, dass wir uns an denselben Gott wenden, denselben Gott preisen, der wie gelähmt dabeistand und nicht eingriff, als diese Morde geschahen? Ist das der gleiche Gott, den wir jeden Tag loben? Oder glauben wir eigentlich an zwei Götter? Machen wir uns schuldig, weil wir glauben, dass der Gott, zu dem wir beten, nichts zu tun hat mit dem Gott, der wegschaute, als Juden massakriert wurden?
Vielleicht verstecken wir uns einfach hinter unseren Gebeten und Hymnen, um die Realität nicht zu sehen, nämlich dass Du ein Gott bist, der uns nicht nur zu ignorieren scheint, wenn wir Ihn am meisten brauchen, sondern auch Erdbeben verursacht, in denen Hunderttausende Menschen ihr Leben verlieren, und uns mit Krankheiten schlägt, die den Menschen Schmerzen, Leiden und den Tod bringen.
Krise Was mich überrascht ist, dass offenbar nur wenige Menschen in der religiösen Gemeinschaft über dieses gigantische religiöse und existenzielle Problem diskutieren. Kaum jemand fragt, warum Du es zulässt, dass diese Morde geschehen. Anscheinend kam nicht ein Einziger aus der Synagoge, der in diesem Moment eine religiöse Krise durchmachte. Oder haben sie ihre wahren Gedanken und Gefühle verborgen, weil sie es nicht wagten, ihnen Ausdruck zu verleihen?
Was mich betrifft, so können mich die Argumente einiger unserer großen zeitgenössischen Rabbiner, die behaupten, die Morde seien Teil der »chevlei maschiach« (Geburtswehen des messianischen Zeitalters), nicht so leicht überzeugen. Diese Erklärungen haben wir allzu oft gehört, seit Tausenden von Jahren, immer dann, wenn Juden ermordet wurden. Doch der Messias ist in all diesen Jahren leider nicht erschienen.
Die Leiter und Lehrer an jüdischen Schulen und Jeschiwot werden mit ihren Schülern über die schmerzvolle Tatsache Deiner Verstrickung in diese Dinge diskutieren. Die meisten von ihnen werden ihren Schülern raten, zu schweigen und weiter den Talmud zu studieren. Doch als Lehrer weiß ich, dass sich viele der besten Studenten mit diesen Problemen befassen. Allein gelassen von ihren Lehrern, versuchen sie, die Fragen zu unterdrücken.
Sorge Du fragst Dich vielleicht, warum ich diese Frage gerade jetzt aufwerfe. Haben wir sie nicht schon seit den Anfängen der Geschichte gestellt – von Kains Mord an Abel bis zum Holocaust und darüber hinaus? Natürlich könnte ich fragen, warum Du all das tun musst. Das Einzige, was Du damit erreichst, ist, dass immer weniger Menschen an Dich glauben. Du weißt genauso gut wie ich, dass all diese Tragödien gegen Dich arbeiten und Deinem Namen Schaden zufügen. Und ja, ich bin um Deinen Namen sehr besorgt. Warum bist Du es nicht?
Wir wissen nicht, wer Du bist und warum Du die Welt erschaffen hast. Wir haben keine Ahnung, warum Du es nötig hast, dass wir existieren. »Ich weiß nichts«, sagte Sokrates, »außer der Tatsache, dass ich nichts weiß.« Ich bin eifersüchtig auf den Atheisten, der sich nicht mit diesem Problem herumplagen muss. Er glaubt, das Universum und unsere Existenz seien nur Zufall. Diese Art von Glauben steht mir nicht frei. Ich bin zu sehr Skeptiker dafür.
Ewigkeit Du hast etwas an Dir, was ich nie begreifen werde. Tatsächlich gibt es nicht viel, was ich von Dir verstehe. Du bist »ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall ist und dessen Umfang nirgendwo ist«. Du siehst alles sub specie aeternitatis (unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit). Ich könnte das nur, wenn ich Du wäre. Aber das bin ich nicht.
Ich weiß, dass ich nicht das Maß aller Dinge bin. Ich weiß, dass ich weit entfernt von der Realität Deiner wesenhaften Existenz bin. Dich zu verstehen, ist wie der Versuch, eine dreidimensionale Realität mithilfe einer Fläche zu verstehen.
Ich bin mir bewusst, dass es eine riesige Ausdehnung jenseits der Ufer meiner Vernunft gibt. Ich sehe Deine Fingerabdrücke überall und höre ein konstantes metaphysisches Murmeln von der »anderen Seite«, von der ich nichts weiß. Es versucht, mein Denken zu durchdringen, kommt aber nicht weit und stoppt auf halbem Weg, um meinen Schädel nicht zu zertrümmern.
Ich bin mir voll bewusst, dass ich immer wieder Deine Wirklichkeit in meine Meinungen übersetze und mich des Vergehens schuldig mache, Deine Erhabenheit in dumme Klischees umzuwandeln.
Du bist mehr als Existenz. Existenz ist die geringste Deiner Fähigkeiten. Wenn Du nur existieren würdest, würde ich wahrscheinlich nicht an Dich glauben. Aber Du bist mehr als unendlich, wahrer als wirklich. Ich bin mir bewusst, dass ich Wörter, Sätze und eine philosophische Sprache dem Bereich unserer begrenzten menschlichen Erfahrung entlehne, und das geht nicht. Glauben ist weithin losgelöst von Sprache. Wenn ich Dir gegenüberstehe, verflüchtigen sich alle meine Worte beinahe zur Bedeutungslosigkeit.
Wunder Ich weiß, dass Deine Wunder Deine Tragödien bei Weitem übertreffen und dass ich durch Deine immerwährende Barmherzigkeit weiterlebe. Mir ist klar, dass wir Juden das größte Wunder von allen sind. Wir haben alle unsere Feinde überlebt – die Ägypter, Griechen, Römer und viele andere. Es ist nicht einmal dem Holocaust gelungen, uns zu vernichten. Der Staat Israel ist ein einziges Wunder in einer Region, die völlig verrückt geworden ist. Wie kann ich Deine Existenz leugnen?
Ich weiß, es ist mehr als verwunderlich, dass wir nicht tagtäglich terroristische Anschläge erleben. Viele von ihnen werden von unseren Soldaten verhindert. Oft ist es aber auch Glück. Und ich vermute, dass Du hinter all dem steckst. Ich werde nie vergessen, dass eine meiner eigenen Töchter und ihre Familie vor einigen Jahren wie durch ein Wunder vor einem terroristischen Angriff in Jerusalem gerettet wurden.
Ja, Du bist überall, aber Du zeigst es auf merkwürdige Art und Weise. Ich werde weiterhin an Dich glauben, aber ich kann nicht leugnen, dass es eine emotionale tour de force ist. Wie kann ich mit jemandem zusammen leben, der manchmal gegen alles verstößt, was meine eigenen begrenzten Gedanken und Gefühle erfassen und ausdrücken können? Ach, wie schön wäre es, Atheist zu sein! Aber was für ein Glück, dass es mir nicht freistand, diese Art von Naivität zu wählen.
Mangelt es meinen Mitgläubigen an den Emotionen, wie ich sie habe? Fast nie habe ich von ihnen ein Wort über Dich in Bezug auf Erdbeben, Tsunamis oder andere Tragödien vernommen. Sie sprechen kaum über Dich. Sie sprechen nur über Deine Halacha. Sind wir alle schuldig, dass wir Dich in einen Deus Absconditus (einen abwesenden Gott) verwandelt haben?
Vorwurf Einige meiner Leser werden mich der Ketzerei beschuldigen: Wie kann jemand es wagen, diese Fragen über Gott zu stellen? Aber Du und ich wissen, dass dieser Vorwurf so unjüdisch ist, wie er nur sein kann. Zwar bin ich kein Prophet, aber ich weiß, dass ich in die Fußstapfen derer trete, die viel größer sind als ich. Habakuk, Hiob und König David sind meine Vorbilder. Und war es nicht Jeremia, der erklärte: »Du bleibst im Recht, Herr, wenn ich mit Dir streite; dennoch muss ich mit dir rechten« (Jeremia 12, 1–2).
Ich wiederhole die Frage meines Vorfahren Abraham, dem ersten Juden, nachdem Du ihm von Deiner Absicht erzähltest, die Städte Sodom und Gomorra zu zerstören. Er fragte: »Das kannst du doch nicht tun. Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten?« (1. Buch Mose 18,25).
Verzeih mir, dass ich diese Fragen gestellt habe, aber ich musste sie in Worte fassen. Und Du schuldest uns eine menschliche Antwort.
Der Autor ist Experte für jüdische Philosophie sowie Leiter des David Cardozo Thinktank in Israel. In voller Länge kann man den Text über die E-Mail-Adresse nlc@internet-zahav.net bestellen.