Was habe ich getan? Was hätte ich tun sollen?» Dies sind die Fragen, die wir uns alle zu Jom Kippur stellen. Die Antworten auf diese Fragen bestimmen unser Schicksal, denn auf ihnen beruhen Reue und Umkehr, beruht die Teschuwa, die entscheidet, ob wir für das kommende Jahr ins Buch des Lebens oder in das Buch des Todes eingeschrieben werden.
Auch wenn wir die Sprache unserer Tradition von Gott als Richter über Leben und Tod und das Bild der Liturgie der Hohen Feiertage von den Büchern des Lebens und des Todes nicht wörtlich nehmen wollen oder können, so ändert das doch nichts an diesen beiden Fragen, ebenso wenig wie an der Folgerung: «Was soll, kann und will ich im kommenden Jahr tun?» Die Antwort auf all diese Fragen ist auch unter denen, die Jom Kippur und seine Aufforderung zu Reue und Umkehr ernst nehmen, sehr verschieden.
Während die einen es als selbstverständlich ansehen, dass man zuallererst und oft auch ausschließlich die jüdische Tradition befragt, die Halacha lernt und sie befolgt, sehen die anderen in den universalen modernen Werten wie sozialer Gerechtigkeit, Tierschutz und Ökologie den Maßstab ihres Handelns. Vor allem soziale Gerechtigkeit ist diesen Jüdinnen und Juden wichtig und wird meist unter dem Stichwort «Tikkun Olam» (Hebräisch: Vervollkommnung der Welt) verhandelt.
soziale gerechtigkeit Viele Juden – vor allem in Nordamerika, aber auch weit darüber hinaus – verstehen unter Tikkun Olam das Streben nach sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen, Juden und Nichtjuden gleichermaßen. Häufig schließt dies auch Tierschutz (Za’ar Ba’alei Chaim) und Naturschutz (Bal Taschchit) mit ein. Synagogen haben ihre Projekte, von Suppenküchen für Obdachlose in der eigenen Stadt bis zur Hilfe für Katastrophen- und Kriegsopfer in der ganzen Welt. Es gehört heute zum guten Ton für Kinder, als Teil ihrer Bar- oder Batmizwa-Vorbereitung auch ein «Tikkun-Olam-Projekt» zu machen und Spenden dafür zu sammeln.
Für einen großen Teil der Juden ist das aktive Streben nach Tikkun Olam nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern das wichtigste Element ihres jüdischen Lebens: das, was sie mit dem Judentum und mit anderen Jüdinnen und Juden verbindet, während sie mit den traditionellen halachischen Formen des Judentums oft wenig anfangen können.
Grundsätzliche Kritiker dieses Phänomens behaupten, Tikkun Olam sei in der jüdischen Tradition überhaupt nicht belegt und lehnen solche Aktivitäten als unjüdisch ab. Um besser verstehen zu können, worauf diese Sicht beruht, muss man nach Tikkun Olam in der jüdischen Tradition fragen. Im Wesentlichen gibt es drei Bereiche, auf die man sich für den Begriff beruft: die rabbinische Literatur, das Gebet und die Kabbala.
mischna In der Bibel taucht Tikkun Olam nicht auf, aber in der nachbiblischen Literatur der Rabbinen finden wir einen ganzen Abschnitt der Mischna (Gittin 4), in dem wiederholt halachische Änderungen mit dem Argument «mipnei (wegen) Tikkun Haolam» begründet werden. Hier geht es etwa um Änderungen im Scheidungsrecht, um den Umgang mit Sklaven, um die Kreditvergabe an Arme und um die Zahlung von Lösegeld für Geiseln.
Beim Blick auf alle diese Fälle zusammen ist aber deutlich, dass «Olam» hier die Gesamtheit der Juden und nicht die Welt oder Menschheit insgesamt meint. Auch geht es weniger um soziale Gerechtigkeit für die Einzelnen, sondern vielmehr um die soziale Stabilität der Gemeinschaft. Also wäre die korrekte Übersetzung: «wegen der Verbesserung der allgemeinen Situation der Juden».
Im Gebet weitet sich der Horizont über das Judentum hinaus. Es gibt zwar nur einen relevanten Text im Siddur, der aber zum Abschluss jedes Gottesdienstes gesagt wird. So heißt es im Aleinu-Gebet: «letaken Olam beMalchut Schadai – die Welt durch die Herrschaft Gottes zu vervollkommnen». Hier ist tatsächlich die ganze Welt gemeint. Allerdings ist der Blick auf die Nichtjuden dabei keineswegs tolerant, sondern es geht darum, dass ihre Götzen ausgerottet werden, sie ihre Religion aufgeben und sie alle den Gott Israels anbeten werden.
Während in der rabbinischen Literatur und im Gebet Tikkun Olam eher am Rande vorkommt, spielt es in der jüdischen Mystik eine zentrale Rolle. Hier geht es darum, die zerbrochene Welt wieder ganz, wieder heil zu machen. Allerdings ist die Welt, um die es da geht, gerade nicht die reale diesseitige Welt der sozialen Gerechtigkeit, sondern die himmlische Welt Gottes. Wenn man die Stimmen der jüdischen Tradition zusammenfasst, ist also Tikkun Olam als Streben nach sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen in der jüdischen Tradition eher schwach belegt. Ist es deswegen aber auch falsch und unjüdisch?
halacha Hier sind wir bei einer zentralen Frage heutigen jüdischen Lebens: Wie verhalten sich jüdische Ethik und jüdisches Recht zueinander? Oder anders formuliert: Ist die ausformulierte Halacha die einzige Anleitung für jüdische Praxis?
Wer traditionell argumentiert, der findet Halacha (jüdische Handlungsanweisungen) in der Tora. Im Kern die schriftliche Tora der Bibel, dann aber auch die mündliche Tora der jüdischen Tradition. Die Halacha funktioniert wie das angelsächsische «case law»: Es geht um konkrete Regeln, die man als Präzedenzfälle heranzieht. Es geht nicht wie im kontinentalen Recht darum, aus allgemeinen Grundsätzen konkrete Handlungsanweisungen abzuleiten.
Wer nun aber meint, die Halacha bestünde nur aus einer langen Reihe kasuistischer Handlungsanweisungen, hat trotzdem nicht recht. Hinter den konkreten Regeln, den Halachot, stehen durchaus allgemeine ethische Grundannahmen. Es gibt in der jüdischen Tradition zwar kaum ausformulierte allgemeine Maximen, sie sind aber der Fülle von Einzelregeln als implizite Axiome inhärent. Das wird vor allem dort sichtbar, wo es um die Neuformulierung von Regeln geht, sei es im Talmud oder heute etwa in Fragen der Medizinethik.
Wer die Halacha aufmerksam studiert, der findet in ihr neben den juristischen auch viele meta-juristische Elemente. So ist es durchaus legitim, sich wie Rabbiner Yoffie von der amerikanischen Reformbewegung auf den Propheten Jeremia zu berufen, wo es von Gott heißt (9,23): «dass ich der Ewige bin, der Gnade, Recht und Gerechtigkeit in dieser Welt tut, denn daran habe ich Wohlgefallen». An anderer Stelle der Tora heißt es «Ihr sollt heilig sein, denn ich, Gott, bin heilig.» (3. Buch Mose 20,26).
tikkun olam So ist Tikkun Olam als Arbeit an der Verbesserung der Welt für alle Menschen zwar von der nichtjüdischen Umgebung angestoßen, lässt sich aber sehr wohl aus der biblischen und postbiblischen jüdischen Tradition begründen. Juden sind heute Teil der globalisierten Welt, und es ist gut, wenn sie versuchen, diese Welt zu einem besseren Ort für alle zu machen. Schon in ihrem eigenen Interesse.
Tikkun Olam ist also legitimes jüdisches Handeln! Trotzdem ist die Kritik an der heutigen Praxis von Tikkun Olam aus dem traditionellen Lager nicht völlig unberechtigt. So wie die Abschottung von der Welt und dem Leben in einem selbstgewählten geistigen und sozialen Ghetto, ist auch die vollständige Übernahme heutiger Werte und Lebensformen und die Beschränkung seines eigenen Judentums auf gute Taten hochproblemtisch. Der Zeitgeist führt heute zu Tikkun Olam und sozialer Gerechtigkeit. Morgen führt uns der Zeitgeist aber möglicherweise zu Rassismus und Schlimmerem.
Wir brauchen stets einen Maßstab für das, was gut ist, was wir tun sollen. Wer nun behauptet, jeder wisse schon, was gut ist, denn das Gewissen sage es einem, übersieht, dass das Gewissen nur aus der Internalisierung der herrschenden Normen gebildet wurde. Es ist keine unabhängige oder von Gott direkt eingesetzte höhere Instanz. Der Maßstab für Gut und Böse darf gerade nicht im Zeitgeist liegen. Die jüdische Tradition ist für die einen selbstverständlicher Maßstab ethischen Handelns, aber auch für weniger traditionelle Juden liegt ihr unersetzlicher Wert in der kollektiven Erfahrung mehrerer Jahrtausende jüdischen Lebens.
Nichts Menschliches ist der jüdischen Tradition fremd, und nichts ist nicht schon dagewesen. Wenn wir stets die Auseinandersetzung mit allen Quellen unserer Tradition suchen, mit Bibel, Talmud, Kabbala und Religionsphilosophie, dann haben wir gute Ratgeber. Wer dies tut und zugleich mit offenen Augen und Ohren – und mit offenem Herzen – in der Gegenwart lebt, der ist auf einem guten Wege.
Richterthron Angesichts von Jom Kippur wird aber noch ein weiterer Schritt jüdischer Ethik deutlich. Nach dem Bild unserer Tradition stehen wir, alle Menschen und die ganze geschaffene Welt an Jom Kippur vor dem Richterthron Gottes. Gott schaut in unser Herz und sieht, was wir getan und was wir nicht getan haben. Er sieht, ob wir unsere Fehler bereuen und umkehren, oder nicht.
Obwohl wir so jeweils individuell beurteilt werden, stehen wir doch gemeinsam in den Synagogen, fasten gemeinsam, beten gemeinsam. Jüdische Ethik ist nicht nur ein intellektueller Prozess der Auseinandersetzung mit den Quellen, sondern beruht genauso auf gelebter jüdischer Gemeinschaft. Im Lehrhaus wie in der Suppenküche, in der Hilfe für Flüchtlinge wie zu Jom Kippur in der Synagoge.
Der Autor lehrt an der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam.