Herr Rabbiner, wie akut ist das Problem der Agunot – der jüdischen Ehefrauen, die sich von ihren jüdischen Männern trennen wollen, aber keinen Scheidebrief (Get) von ihnen bekommen – in Europa?
Allein in Moskau beschäftige ich mich mit etwa zehn Fällen. Ich glaube, es gibt in ganz Europa vielleicht zwei bis drei Dutzend. Aber ich finde, man soll sich mit Problemen rechtzeitig befassen und vorbeugen, bevor sie sehr groß werden.
Bei Juden in den USA werden Eheverträge zunehmend üblich. Würden Sie solche Vereinbarungen auch europäischen Juden empfehlen?
Ja. Aber es gibt das Problem, dass jedes Land in Europa ein eigenes Rechtssystem hat, und die Eheverträge müssen sich an das jeweilige Land anpassen.
Während der Tagung der Europäischen Rabbinerkonferenz Anfang November in Berlin haben Sie Richtlinien beschlossen, um das Problem der Agunot in Europa aktiv anzugehen. Was fordern Sie genau?
In Amsterdam oder in England zum Beispiel wird eine zivile Scheidung nicht anerkannt, solange das betreffende Paar durch eine religiöse Heirat gebunden ist. Wir wollen das gerne ändern.
Sie sprechen sich dafür aus, dass die Gesetzgebung in Israel reformiert wird, weil eine solche Entwicklung auch den Agunot außerhalb Israels helfen könne. Warum sind denn europäische Agunot darauf angewiesen, dass die Gesetze in Israel geändert werden?
Gute Frage. Die Antwort ist sehr einfach. Erstens glaube ich, dass jeder Jude in Europa, besonders in Osteuropa – mehr noch als ein Jude in Amerika –, daran denkt, dass er eines Tages nach Israel auswandern will. Und kein Mann möchte am Flughafen Ben-Gurion ankommen und dort festgenommen werden. Zweitens ist die Mehrheit der jüdischen Gemeinden in Europa nicht religiös, sondern säkular. Und wenn das israelische Rückkehrgesetz (Chok Haschwut) sagt, dass ein Mann, der einer Frau keinen Get gibt, nicht nur nach dem religiösen Gesetz ein Krimineller ist, sondern auch nach dem israelischen Staatsgesetz, dann bekommt dieses Thema viel mehr Bedeutung für die Gemeinden und für säkulare Juden in Europa.
Sie verlangen, dass Männer, die sich weigern, ihrer Frau den Get zu geben, nicht an religiösen Zeremonien teilnehmen dürfen. Das heißt, Sie weisen Rabbiner ausdrück- lich an, solche Männer nicht mehr in die Synagoge zu lassen?
Es geht nicht nur um die Synagoge. Ich hatte selbst das Problem, dass Männer, die ihrer Frau keinen Get geben wollten, aus einer Synagoge herausgeworfen wurden, aber ein anderer Rabbiner sie wieder hereingelassen hat. In Europa sind Synagogen viel mehr als Gotteshäuser. Sie sind Gemeindezentren, sie haben Friedhöfe. Die offiziellen jüdischen Gemeinden Europas müssen einem solchen Mann vermitteln: Solange Sie den Get verweigern, können Sie an keiner einzigen Aktivität der Gemeinde teilnehmen.
Sie wollen dem Mann also sagen: Wenn Sie Ihrer Frau keinen Scheidebrief geben, können Sie es vergessen, auf unserem jüdischen Friedhof begraben zu werden?
Nicht nur das. Sie dürfen nicht zur Chanukkafeier kommen, sie dürfen nicht zum Sederabend, sie können kein Kaddisch sagen. Wenn ein Verweigerer weiß, wie viel seine Haltung ihn auf der sozialen Ebene kosten wird, dann wird er zweimal oder dreimal darüber nachdenken, ob er seiner Frau den Get verwehrt.
Nun sieht es in den USA so aus, dass die moderne Orthodoxie einen Ehevertrag eher akzeptiert, während die Ultraorthodoxie ablehnender erscheint. Wie ist das in Europa?
Ich glaube, dass die Ultraorthodoxie in Europa nicht weniger orthodox ist als in Amerika. Aber ich glaube, dass mit der Zeit auch viele ultraorthodoxe Gemeinden die Wichtigkeit einer solchen Lösung anerkennen werden.
Was sind denn die Motive der Männer, die sich weigern, ihrer Frau den Get zu geben?
Geld, Rache, Liebe, Kinder. Es gibt so gut wie jedes Motiv.
Sollte das jüdische Eherecht nicht am Besten grundsätzlich reformiert werden, sodass eine Frau nicht mehr davon abhängig ist, dass ihr Mann ihr den Get gibt?
Um ein jüdisches Gesetz zu ändern, braucht man einen Sanhedrin. Und den hat es seit ein paar tausend Jahren nicht mehr gegeben. Ich gehe von den Möglichkeiten aus, die heute in der jüdischen Gesetzgebung existieren. Es ist eine Frage der Realpolitik, was möglich ist und was nicht.
Mit dem Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz sprach Ayala Goldmann.