Die Politik hat entschieden, schrittweise zum Frühling hin zahlreiche Maßnahmen zurückzufahren, die eigentlich die Corona-Pandemie eindämmen und Leben retten sollten. Sofern die Lage des Gesundheitssystems es wirklich zulässt, will man alle tiefer greifenden Schutzmaßnahmen einschließlich der Homeoffice-Pflicht bis zum 20. März auslaufen lassen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist zwar noch vorsichtig, versprach aber allen einen tollen Sommer. Und Kanzler Olaf Scholz (SPD) meinte vor zwei Wochen: »Irgendwie haben wir das nach zwei langen Jahren verdient.« Die FDP fordert, dass der Gesundheitsschutz wieder zur reinen Privatsache werden müsse; ihr parlamentarischer Fraktionsgeschäftsführer im Bundestag, Stephan Thomae, sieht keine konkrete Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems mehr.
Weiterhin Masken zu tragen und sich an Abstandsregeln zu halten, ist nicht unzumutbar.
Daher sei das »eigentliche Primärziel der Pandemiebekämpfung« längst erreicht worden, und die Menschen sollten wieder »eigenverantwortlich darüber entscheiden dürfen, ob sie sich impfen und regelmäßig testen lassen, ob sie die AHA-Regeln anwenden und Maske tragen oder nicht«.
EIGENVERANTWORTUNG Eigenverantwortlich zu entscheiden, also sich dem tatsächlichen Risiko entsprechend vernünftig und angemessen zu verhalten, setzt aber ein gewisses Maß an Risikokompetenz und Solidarität mit all denen voraus, die einer Risikogruppe angehören und weiterhin massiv gefährdet bleiben.
Eigenverantwortlich bedeutet schließlich nicht eigennützig. Der für unsere Gesellschaft so wichtige und viel beschworene Zusammenhalt scheint in den beiden Jahren, in denen die Pandemie unser ständiger Begleiter war, jedoch etwas brüchig geworden zu sein. Laut einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2020 zeigt sich zudem ein Drittel der Deutschen offen für Verschwörungsmythen.
Sind wir also wirklich bereit für mehr Eigenverantwortung? Haben wir die nötige Risikokompetenz, gibt es noch genug Solidarität mit den Gefährdeten? War, wie Thomae sagt, wirklich nur die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems Ziel aller Maßnahmen, oder ging es nicht doch auch darum, stark Gefährdete zu schützen? Ist es eine Gefahr für Demokratie und Freiheit, Schutz zu fordern?
ÜBERDRUSS Sicher ist auf jeden Fall, dass wir alle der Pandemie überdrüssig sind. Deswegen ist aber weder das Virus ausgerottet noch die Pandemie beendet. Die Mehrheit der Deutschen wird gewiss auf alle Schutzmaßnahmen verzichten, die nicht mehr zwingend vorgeschrieben sind, und kaum jemand wird auslassen, was wieder erlaubt ist.
Schon lange sind wir nicht mehr allzu vorsichtig, und dass wir uns inzwischen an eine von Tag zu Tag steigende Zahl von Corona-Toten »gewöhnt« haben, spiegelt auch ein gewisses Maß von Abstumpfung wider.
Doch die Halacha verpflichtet uns, Leben zu erhalten und Leben zu retten. Ausdrücklich ist es unsere Pflicht, unsere eigene Gesundheit zu schützen (Pikuach Nefesch), aber nicht weniger auch die Gesundheit unserer Mitmenschen.
eigenverantwortung Die als ethisches Prinzip formulierte Mizwa »lo taamod al dam reecha« aus dem 3. Buch Mose 19,16 stellt klar, dass Eigenverantwortung in diesem Sinne keine bloß passive Haltung ist – und dass sie nicht nur uns selbst gilt, sondern aktives Handeln verlangt, um auch das Leben anderer zu schützen.
»Lo taamod« heißt: »Steh nicht still«. Steh nicht still, sondern handele und werde aktiv beim Blut deines Nächsten (»al dam reecha«), also wenn das Leben deines Mitmenschen in Gefahr ist! Das, was wir tun müssen, um Gefährdete vor Corona zu schützen, ist nicht immer bequem. Aber freiwillig auch in Zukunft die Empfehlungen und Regeln zum »Social Distancing« zu beherzigen, die Maske weiterhin zu tragen und im Zweifel auch einmal einen Selbsttest zu machen, verlangt uns nichts Unzumutbares ab.
Um die Risiken realistisch bewerten zu können, müssen wir uns auf die Einschätzungen der Experten verlassen. Der jüdischen Tradition ist es keineswegs fremd, sondern sie fordert ausdrücklich, medizinische Entscheidungen nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft zu treffen. Dies sichert die für halachisch richtige Entscheidungen notwendige Risikokompetenz.
SACHSTAND In der Corona-Pandemie hat sich der Sachstand mehrfach geändert und ist unübersichtlich geworden. Neue ansteckende Varianten haben sich entwickelt, die Impfbereitschaft war geringer als erhofft, und es sind wohl viel höhere Raten von Immunität nötig als erwartet, um in der Zukunft neue und gefährlichere Infektionswellen verhindern zu können.
Rabbi Akiba Eger schrieb: Wer Empfehlungen von Ärzten missachtet, versündigt sich vor G’tt.
Es liegt wohl in der Natur von Pandemien und Seuchen, dass sie sich dynamisch und unübersichtlich entwickeln. Wegen der Parallelen zur heutigen Situation sei an Rabbi Akiba Eiger aus Eisenstadt (1761–1837) erinnert. Als er Anfang des 19. Jahrhunderts als Rabbiner in Posen wirkte, waren die Menschen durch die damals grassierende zweite Cholera-Pandemie ähnlich verunsichert, wie wir es heute durch Covid-19 sind.
beschränkungen Damals folgte er den Empfehlungen der führenden Ärzte seiner Zeit und traf die unpopuläre Entscheidung, dass selbst an den Hohen Feiertagen Beschränkungen für den Besuch der Synagoge durchzusetzen seien, um die Ausbreitung der Cholera einzudämmen und Leben zu retten. In seinen Iggerot schrieb er: »Wer die ärztlichen Empfehlungen missachtet, versündigt sich schwer vor G’tt (…), besonders dann, wenn dies zur Ausbreitung der Krankheit in der Stadt führt« (Iggerot Rabbi Akiba Eger 73).
Statt alles auszureizen, was wieder erlaubt ist, sollten wir uns also eher an der Halacha orientieren. Das heißt, wir müssen besonnen und vernünftig entscheiden, welche Maßnahmen wir in der jeweils konkreten Situation fallen lassen und welche Schutzmaßnahmen wir zur Sicherheit doch freiwillig beibehalten.
Zur richtigen Einschätzung der Risiken sollten wir dabei auf die Empfehlungen der Experten des Robert Koch-Instituts hören. Dann können wir wieder zu einer Solidarität finden, die von niemandem mehr abverlangt, als für das Erreichen des Gemeinwohls und zur Erfüllung der Mizwot nötig ist.
Der Autor ist leitender Oberarzt am Klinikum Bielefeld und Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.