Welches ist das wohl fundamentalste Konzept, auf dem das ökonomische System basiert? Das elementarste Prinzip ist das des Eigentums. Käufe, Darlehen, Verträge und Schadenersatz sind Konstrukte, die nur dann eine Bedeutung haben, wenn ihnen der Begriff des Eigentums zugrunde liegt. Die psychologische Forschung zeigt, dass sogar Kinder im Alter von drei oder vier Jahren bereits ein differenziertes Verständnis für die Regeln des Eigentums und den dazugehörigen Rechten haben.
gesetze Welche Eigenschaft liegt dem Besitztum zugrunde? Handelt es sich hierbei nur um eine weit verbreitete und von der Zivilisation akzeptierte Konvention, um die Wirtschaft anzukurbeln? Oder stellen die Gesetze des Eigentums einfach nur das existierende fundamentale Verhältnis zwischen den Menschen und Gegenständen dar?
Der englische Jurist William Blackstone (1723–1780) bespricht die Vorteile des Eigentums in einem Text, der auch heute nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat. Blackstone war Professor an der Oxford University, Autor der Commentaries on the Laws of England, eine vierbändige Übersicht des Gewohnheitsrechts, der für seine übersichtliche, verständliche, in ebenso moderner wie deutlicher Sprache verfasste Abhandlung des englischen Rechts bewundert wurde.
Darin heißt es: »Aber als die Menschheit zahlenmäßig immer größer wurde und die Geschicklichkeit sowie die Zielstrebigkeit stetig zunahm, erwuchs die Notwendigkeit eines Konzepts der Macht. Es wurde nötig, Individuen nicht nur den zeitnahen Gebrauch von Gegenständen zu bewilligen, sondern ihnen die eigentliche Substanz des gebrauchten Gegenstandes zu verdeutlichen.«
unruhen Damit bestimmt dieser Text eine der grundlegendsten Zielsetzungen, denen die Konvention des Eigentums dient: die Vermeidung sozialer Konflikte. Menschen fühlen sich betrogen, wenn sie härter als ihre Nachbarn arbeiten, ihnen aber nur derselbe Anteil an Ressourcen zur Verfügung gestellt wird. Blackstones Theorie des Eigentums legt deutlich fest, dass in einer Gesellschaft, wenn diese eine bestimmte Bevölkerungsdichte erreicht hat, bei den Menschen ein Sinn für Wettbewerb erwacht. Eine Gesellschaft benötigt dann dringend ein System, welches anhand von bestimmten Regeln Eigentumsrechte festlegt.
Schauen wir uns Adam an. Hatte der erste Mensch ein Konzept von Eigentum? Wenn diese Konvention sich einzig und allein entwickelt hat, um soziale Konflikte zu vermeiden, dann wäre es für Adam unnötig gewesen, irgendetwas zu besitzen, da er keine Konkurrenten hatte. Wir würden erwarten, dass sich dieses Konzept erst bei Zunahme der Bevölkerungsdichte auf der Welt entwickelte.
Und dennoch beschreibt der Talmud Adam als Menschen, dem die ganze Welt gehört. Das jüdische Gesetz fügt dem Konzept von Eigentum eine neue Bedeutung zu. Es besagt, dass Eigentum keine rein nutzungsorientierte Konvention ist. Sie zeigt vielmehr eine inhärente Beziehung zwischen dem Eigentum und dem Eigentümer. Die Funktion des Gesetzes ist es nicht, ein Konzept des Eigentums zu schaffen (und dann die betreffenden Konditionen abzugrenzen). Das Gesetz enthüllt vielmehr diese Realität und reagiert darauf.
verbot Eine faszinierende Illustration dieses Konzeptes zeigt der Verkauf von Chametz (Gesäuertem). Unsere Tradition schreibt vor, dass wir uns vor den Pessach-Feiertagen von allem Gesäuerten befreien sollen. Das Verbot richtet sich nicht gegen den physischen Besitz von Chametz. Denn es ist erlaubt, es bei sich zu Hause zu behalten (solange es an einem sicheren und fest verschlossenen Ort ist). Das Verbot richtet sich gegen den Rechtstitel beim Besitz. Deshalb verkaufen Juden auf der ganzen Welt vor Pessach ihr Chametz an Nichtjuden. Auf diese Weise schaffen sie es, das Verbot bezüglich des Besitzes nicht zu überschreiten, ohne dieses physisch aus ihren Häusern und Wohnungen entfernen zu müssen.
Wenden wir uns nun kurz dem Besitz von »schädlichen Gegenständen« zu. Alle rechtlichen Systeme kennen diese Kategorie. In den USA gehören verschiedene bewusstseinsverändernde Drogen und einige Waffen dazu. Wir gehen damit um, indem wir jegliche Eigentumsrechte an solchen Dingen ablehnen und deren Besitz unter Strafe stellen. Das bedeutet, dass niemand vor Gericht gehen kann, wenn ihm jemand sein Kokain gestohlen hat, weil vor dem Gesetz kein Eigentumsrecht bezüglich verbotener Dinge existiert.
Warum kann das Judentum nicht auf dieselbe Weise handeln und ganz einfach den Besitz von Chametz während der Pessachwoche rechtlich unmöglich machen? Die Antwort ist, dass das Judentum Eigentum nicht als Konvention des rechtlichen Systems ansieht. Das jüdische Gesetz betrachtet Eigentum als eine Realität, die unabhängig von Gesetz existiert. Das Gesetz schafft kein Eigentum, sondern reagiert einfach darauf.
mord Diese Unterscheidung wird vielleicht durch ein anderes Beispiel noch deutlicher. Das Gesetz verbietet Mord. Doch nur, weil das Gesetz nicht möchte, dass unschuldige Menschen getötet werden, bedeutet dies nicht, dass das Gericht, wenn nun doch ein Mord geschieht, behaupten kann, dass das Opfer sei nicht wirklich tot. Leben und Tod sind vom Gesetz unabhängige Realitäten. Das Gesetz kann festlegen, auf welche Weise wir auf diese Realitäten und die Umstände reagieren sollen, die diese herbeiführt. Aber die Beurteilung von Leben und Tod entsteht nicht durch rechtliche Gebote. Ebenso werden die Bedingungen für Eigentum nicht vom jüdischen Gesetz erschaffen, sondern das jüdische Gesetz reagiert einfach auf diese Realität.
Diese Perspektive, die der talmudischen Sichtweise aufs Eigentum zugrunde liegt, ist in vielen Bereichen des Judentums von großer Relevanz. Bereiche, für die dieses Verständnis ausschlaggebend ist, wenn man verstehen will, wie das jüdische Gesetz mit unmoralischen Verträgen umgeht.
Der Autor ist Direktor des Jüdischen Bildungszentrums Berlin. Ab dem 2. Mai leitet er dort (Münstersche Straße 6, 10709 Berlin) einen sechswöchigen Kurs (jeweils mittwochs, 19.30 Uhr) des Jewish Learning Institute: »Sie sitzen am Steuer und navigieren durch das jüdische Recht«.
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