Position

Gesellschaft ohne Gott?

»Gottlose Buskampagne«: Überzeugte Atheisten warben 2009 in Berlin für »ein positives Bild des Unglaubens«. Foto: dpa

Gregor Gysi, der Atheist, warnt vor einer »gottlosen Gesellschaft«. Diese Nachricht lässt aufhorchen. Bei einer Buchvorstellung hatte sich der Linken-Politiker vor drei Wochen in Berlin dahin gehend geäußert. Wenn Kirchen und Religionen nicht existierten, gäbe es kaum ein Nachdenken über moralische Fragen. Auch seine Partei habe den Anspruch, eine allgemein verbindliche Moral zu formulieren. Die Kraft, diese in der gesamten Gesellschaft zu vermitteln, habe aber auch heute nur die Kirche. Die Wirtschaft könne letztlich keine verbindliche Moral zur Folge haben, nach der man leben könne, argumentierte er.

Als Rabbiner würde ich einwenden, dass es nicht (nur) die Kirche ist, die diese Moral der Gesellschaft vermitteln kann, sondern auch und vor allem die Synagoge, also der Tanach beziehungsweise die jüdische Bibel.

schaden Auch der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks hat sich mehrfach zur Frage der »gottlosen Gesellschaft« geäußert. Er stellt fest, dass Religion in der Vergangenheit viel Schaden angerichtet hat und dass auch jetzt versucht wird, im Namen der Religion mit Terror und asymmetrischen Kriegen ganze Nationen und Regionen zu destabilisieren.

Dies ist ebenso zu fürchten wie säkularer Totalitarismus. Denn die Vergangenheit zeigt, wohin gottlose Gesellschaften führen, man betrachte Nazi-Deutschland, die Sowjet­union und das kommunistische China. Wenn eine Gesellschaft ihre Religion verliert, hat sie keinen Bestand. Wenn eine Gesellschaft ihre Seele verliere, gehe damit auch die Zukunft verloren, meint Rabbi Sacks.

Das bekannte Narrativ der europäischen Politik ist irreführend: Da heißt es, dass im Mittelalter und in der Renaissance politisches Denken fundamental christlich und theologisch war. Erst durch die Wissenschaft sei es säkular und dadurch tolerant geworden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Gründer der modernen europäischen Politik waren religiös, und ihre Basis war die jüdische Bibel, führt Rabbiner Sacks aus. In diesem Sinne entwickeln sie drei revolutionäre Prinzipien: dass alle rechtmäßigen Konstitutionen republikanisch seien, dass es Aufgabe des Staates ist, Armut zu bekämpfen, und schließlich, dass der Staat nicht in religiösen Glauben eingreift – das Prinzip der Toleranz. Diese drei Prinzipien stammen aus dem Tanach.

tyrannei Das Recht des Staates verlangt unbedingten Gehorsam. Dort gibt es kein höheres Recht, keine göttliche Norm, auf die der Staat reagieren muss und in deren Licht er auch kritisiert werden kann. Deshalb hat die Demokratie das Potenzial, zur Tyrannei zu werden, auch wenn es die Tyrannei der Mehrheit ist. Sacks ist der Meinung, dass der Freiheit in der modernen Welt eher durch Religion als durch Säkularismus gedient ist.

2008 veröffentlichte der amerikanische Soziologe Phil Zuckerman das Buch Society without God. Dafür hatte er Reisen nach Dänemark und Schweden unternommen, wollte dort Gesellschaften kennenlernen, in denen Glaube und Gebet am wenigsten präsent waren. Zuckerman meint, dass Menschen im Rest der Welt – anders als in diesen beiden Ländern – immer religiöser werden.

Dänemark und Schweden sind nach seiner Ansicht die »am wenigsten religiösen Länder der Welt«. Er wollte von den Menschen dort wissen, wie sie mit Fragen von Leben und Tod umgehen. Und er fand heraus, dass sie relativ zufrieden sind. Beide Länder rangieren im weltweiten Glücksreport ganz weit oben. Die Gesellschaften zeichnen sich unter anderem durch eine starke Wirtschaft und ein exzellentes Sozialsystem mit hervorragender Gesundheitsversorgung aus.

korruption Diese Feststellung, so Zuckerman, widerspreche der Annahme, eine Gesellschaft ohne Gott sei so etwas wie die Hölle auf Erden, dort, wo kein religiöses Dogma das Leben bestimmt, würden Bastionen der Sünde und Korruption entstehen. Er meint, eine Gesellschaft ohne Gott sei nicht nur möglich, sondern es könne dort auch sehr zivilisiert und angenehm zugehen. Dennoch könne man nicht behaupten, Säkularismus sei immer gut und Religion immer schlecht für eine Gesellschaft.

Bemerkenswert finde ich, dass Zuckerman eines nicht in Betracht zieht: dass in diesen Ländern traditionell die restriktivsten Beschränkungen von Ritualen religiöser Minderheiten zu finden sind, deren vermeintliches Glück auf einer erzwungenen Assimilierung fußt. Das ist keinesfalls das Ideal. Vielmehr sorgt gerade die Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wir brauchen eine Gesellschaft mit Ethik und Moral, mit Werten, an die auch der moderne Mensch verbindlich nur durch Gottes Wort erinnert wird. Das setzt Grenzen. »Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt«, lautet der oft zitierte Satz von Fjodor M. Dostojewski. Wenn Er aber existiert, und das steht für mich außer Frage, kann das Gute gewinnen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main.

Umfrage

Studie: Deutsche vertrauen Zentralrat der Juden signifikant mehr als der christlichen Kirche und dem Islam

Die Ergebnisse, die das Meinungsforschungsinstitutes Forsa im Auftrag des »Stern«, RTL und n-tv vorlegt, lassen aufhorchen

 23.12.2025

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025