Gregor Gysi, der Atheist, warnt vor einer »gottlosen Gesellschaft«. Diese Nachricht lässt aufhorchen. Bei einer Buchvorstellung hatte sich der Linken-Politiker vor drei Wochen in Berlin dahin gehend geäußert. Wenn Kirchen und Religionen nicht existierten, gäbe es kaum ein Nachdenken über moralische Fragen. Auch seine Partei habe den Anspruch, eine allgemein verbindliche Moral zu formulieren. Die Kraft, diese in der gesamten Gesellschaft zu vermitteln, habe aber auch heute nur die Kirche. Die Wirtschaft könne letztlich keine verbindliche Moral zur Folge haben, nach der man leben könne, argumentierte er.
Als Rabbiner würde ich einwenden, dass es nicht (nur) die Kirche ist, die diese Moral der Gesellschaft vermitteln kann, sondern auch und vor allem die Synagoge, also der Tanach beziehungsweise die jüdische Bibel.
schaden Auch der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks hat sich mehrfach zur Frage der »gottlosen Gesellschaft« geäußert. Er stellt fest, dass Religion in der Vergangenheit viel Schaden angerichtet hat und dass auch jetzt versucht wird, im Namen der Religion mit Terror und asymmetrischen Kriegen ganze Nationen und Regionen zu destabilisieren.
Dies ist ebenso zu fürchten wie säkularer Totalitarismus. Denn die Vergangenheit zeigt, wohin gottlose Gesellschaften führen, man betrachte Nazi-Deutschland, die Sowjetunion und das kommunistische China. Wenn eine Gesellschaft ihre Religion verliert, hat sie keinen Bestand. Wenn eine Gesellschaft ihre Seele verliere, gehe damit auch die Zukunft verloren, meint Rabbi Sacks.
Das bekannte Narrativ der europäischen Politik ist irreführend: Da heißt es, dass im Mittelalter und in der Renaissance politisches Denken fundamental christlich und theologisch war. Erst durch die Wissenschaft sei es säkular und dadurch tolerant geworden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Gründer der modernen europäischen Politik waren religiös, und ihre Basis war die jüdische Bibel, führt Rabbiner Sacks aus. In diesem Sinne entwickeln sie drei revolutionäre Prinzipien: dass alle rechtmäßigen Konstitutionen republikanisch seien, dass es Aufgabe des Staates ist, Armut zu bekämpfen, und schließlich, dass der Staat nicht in religiösen Glauben eingreift – das Prinzip der Toleranz. Diese drei Prinzipien stammen aus dem Tanach.
tyrannei Das Recht des Staates verlangt unbedingten Gehorsam. Dort gibt es kein höheres Recht, keine göttliche Norm, auf die der Staat reagieren muss und in deren Licht er auch kritisiert werden kann. Deshalb hat die Demokratie das Potenzial, zur Tyrannei zu werden, auch wenn es die Tyrannei der Mehrheit ist. Sacks ist der Meinung, dass der Freiheit in der modernen Welt eher durch Religion als durch Säkularismus gedient ist.
2008 veröffentlichte der amerikanische Soziologe Phil Zuckerman das Buch Society without God. Dafür hatte er Reisen nach Dänemark und Schweden unternommen, wollte dort Gesellschaften kennenlernen, in denen Glaube und Gebet am wenigsten präsent waren. Zuckerman meint, dass Menschen im Rest der Welt – anders als in diesen beiden Ländern – immer religiöser werden.
Dänemark und Schweden sind nach seiner Ansicht die »am wenigsten religiösen Länder der Welt«. Er wollte von den Menschen dort wissen, wie sie mit Fragen von Leben und Tod umgehen. Und er fand heraus, dass sie relativ zufrieden sind. Beide Länder rangieren im weltweiten Glücksreport ganz weit oben. Die Gesellschaften zeichnen sich unter anderem durch eine starke Wirtschaft und ein exzellentes Sozialsystem mit hervorragender Gesundheitsversorgung aus.
korruption Diese Feststellung, so Zuckerman, widerspreche der Annahme, eine Gesellschaft ohne Gott sei so etwas wie die Hölle auf Erden, dort, wo kein religiöses Dogma das Leben bestimmt, würden Bastionen der Sünde und Korruption entstehen. Er meint, eine Gesellschaft ohne Gott sei nicht nur möglich, sondern es könne dort auch sehr zivilisiert und angenehm zugehen. Dennoch könne man nicht behaupten, Säkularismus sei immer gut und Religion immer schlecht für eine Gesellschaft.
Bemerkenswert finde ich, dass Zuckerman eines nicht in Betracht zieht: dass in diesen Ländern traditionell die restriktivsten Beschränkungen von Ritualen religiöser Minderheiten zu finden sind, deren vermeintliches Glück auf einer erzwungenen Assimilierung fußt. Das ist keinesfalls das Ideal. Vielmehr sorgt gerade die Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Wir brauchen eine Gesellschaft mit Ethik und Moral, mit Werten, an die auch der moderne Mensch verbindlich nur durch Gottes Wort erinnert wird. Das setzt Grenzen. »Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt«, lautet der oft zitierte Satz von Fjodor M. Dostojewski. Wenn Er aber existiert, und das steht für mich außer Frage, kann das Gute gewinnen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main.