Der Text, der an Schemini Azeret aus der Tora gelesen wird, hat scheinbar wenig mit dem Feiertag zu tun, aber die beiden großen Themen des Abschnitts sind stark damit verbunden: der Umgang mit Essen und dem Wohlstand des Landes.
Das jüdische Volk steht kurz vor dem Einzug ins Land Israel. Bisher wurde es direkt von G’tt versorgt. Jetzt muss es sich Gedanken darüber machen, wie es mit dem landwirtschaftlichen Ertrag, dem Reichtum des Landes, umgeht. Was dürfen wir wie konsumieren, und wie wird es verteilt?
Ernte Schemini Azeret bildet zusammen mit Sukkot den Abschluss des landwirtschaftlichen Jahres. Gerade jetzt, wo wir Bilanz über die Ernte ziehen können, wo uns der materielle Reichtum quasi ins Auge sticht, ist es wichtig, dass wir auch beim Konsumieren und Verteilen darauf achten, wem wir diesen Reichtum zu verdanken haben. Wir könnten angesichts des Wohlstands meinen, dass er uns ganz zusteht, weil wir ihn uns erarbeitet haben. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.
Die andere Hälfte der Wahrheit ist, dass uns G’tt das Land und unsere Talente gegeben hat, damit wir nicht nur im Wohlstand leben können, sondern auch in einer gerechten Gesellschaft, so wie es die Tora immer wieder fordert. Wir haben unser Wohlergehen also vor allem G’tt zu verdanken.
Der erste Zehnt ist für den Levi bestimmt, der zweite Zehnt für Jerusalem, und der dritte Zehnt für die Armen.
Landwirtschaft Daher werden zwei so scheinbar profane und materielle Dinge wie Nahrung und Einkommen – in einer von der Landwirtschaft geprägten Gesellschaft der Antike übrigens fast synonym zu verstehen – jetzt mit Heiligung und Spiritualität verbunden, wie es im ersten Vers unseres Toraabschnitts heißt: »Wiederholt hast du allen Heimertrag deiner Saat, die auf das Feld hinausgeht, Jahr für Jahr zu verzehnten« (5. Buch Mose 14,22).
Wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) erklärt, hatten »die vorangegangenen Speisegesetze die Verpflichtung wiederholt, bei der Nahrungswahl … der geistig sittlichen Heiligung des durch sie zu nährenden Menschenwesens Rechnung zu tragen und nur solche Speisen und diese nur in solchen Zuständen und Bereitungsweisen zu genießen, durch welche unsere geistig sittliche Integrität nicht gefährdet, vielmehr selbst bei der Speisebereitung … die überragende Bestimmung des geistig leiblichen Menschenwesens gegenwärtig gehalten werden«.
Konsum Das ist eng verbunden mit dem Gebot des Ma’aser Scheni in unserem Vers, also des zweiten Zehnten für die landwirtschaftlichen Erträge. Der materielle, physische Nahrungsgenuss wird so zu einer heiligen Pflicht erhoben und als »Essen vor G’tt« (Vers 23) geradezu zu einem »Lehr- und Erziehungsmittel« und zu einer uns durchs ganze Leben begleitenden religiösen Aufgabe, wie es Rabbiner Hirsch erklärt. Der Konsum und die Verwendung unseres Einkommens dürfen niemals durch unsere niederen Instinkte geleitet werden, sondern müssen dem Ideal der Menschlichkeit und der G’ttesnähe entsprechen.
Die verschiedenen Arten des Zehnten entsprechen den Zielen, denen unsere materiellen Mittel zugewendet werden sollen. Der erste Zehnt ist für den Levi bestimmt, also für das Geistige, der zweite Zehnt für Jerusalem, und der dritte Zehnt für die Armen steht symbolisch für unsere Verantwortung dem Nächsten gegenüber. Wir können also nicht einfach unser Einkommen verwenden, wie wir es wollen, jedenfalls nicht, bevor wir unsere Pflichten dem Geistigen und dem Armen gegenüber erfüllt haben.
Verteilung Damit eine möglichst gerechte Verteilung des Wohlstands ermöglicht wird und niemand verarmt, gibt es das Schmitta- beziehungsweise Schabbatjahr (5. Buch Mose 15, 1–2), in dem die Schulden erlassen werden, und wir sollen »unser Herz nicht gefühllos machen und die Hand nicht verschließen dem Bruder, dem Bedürftigen« (15,7).
Ziel ist nicht der materielle, sondern der spirituelle Wohlstand. Das Einkommen ist Mittel zum Zweck. Natürlich sollen wir gut und sorgenfrei leben, aber letztlich ist die gerechte Gesellschaft der Freien und Gleichen anzustreben.
Segen werden wir durch Erfüllung des g’ttlichen Gesetzes bekommen. Und dieser »nationale Volkswohlstand«, wie es Rabbiner Hirsch schreibt, »der nicht in einer glänzenden Staatsmacht bei verkümmerten Volksexistenzen, sondern eben in dem begüterten, von Mangel befreiten Gedeihen jedes einzelnen Bürgers seine Verwirklichung findet, wird hoch über andere Völker hinausleuchten«.
Der Autor ist Mitteleuropa-Direktor des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation sowie Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.