Unetane Tokef

Geschrieben und besiegelt

»Sefer Hachajim«, das Buch des Lebens Foto: Thinkstock

Unetane Tokef

Geschrieben und besiegelt

Vom »Buch des Lebens«: Ein altes Gebet ruft uns an Rosch Haschana in den Synagogen zur Umkehr auf

von Chajm Guski  18.09.2017 10:52 Uhr

Rosch Haschana ist auch der »Jom Hadin«, der Tag des Gerichts. Vor dem Feiertag wünschen wir »Chatima Towa«, eine gute Einschreibung bis Jom Kippur. Doch um welche Einschreibung in welches Buch geht es dabei eigentlich?

Besonders anschaulich wird die Antwort in dem Gebet »Unetane Tokef« gegeben, das wir an Rosch Haschana und Jom Kippur in den Synagogen lesen – ein Text, der durch Leonard Cohens Adaption »Who by fire« Bekanntheit erlangt hat.

Dessen Worte sind sehr nah am Original: »Am Neujahrstag werden sie eingeschrieben und am Tage der Versöhnung besiegelt, wie viele dahinscheiden und wie viele geboren werden, wer leben soll und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit, wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Schwert und wer durch Hunger, wer durch den Sturm und wer durch Seuche, wer Ruhe haben wird und wer Unruhe, wer Rast findet und umherirrt, wer frei von Sorgen bleibt und wer voller Schmerzen, wer hoch und wer niedrig ist, wer reich und wer arm sein soll.«

Mainz
Nicht nur Cohen hat das großartig intoniert, auch viele Vorbeter legen besonders viel Emotion in diesen Text, dessen Entstehungsgeschichte schon Legende ist. Angeblich soll Rabbi Kalonymus ben Meschullam (11. Jahrhundert) den Text aufgeschrieben haben, den ein Rabbiner Amnon aus Mainz gesprochen haben soll.

Er sei vor die Wahl »Tod oder Taufe« gestellt worden und habe sich Bedenkzeit erbeten. Das bereute er anschließend und lehnte es ab, sich taufen zu lassen. Er wurde gefoltert. Kurz bevor er seinen tödlichen Verletzungen erlag, sprach er in der Synagoge ebendieses Gebet.

Die Geschichte ist ergreifend und passt in ihre Zeit, ist aber offenbar nicht historisch. Sie basiert auf den Angaben von Rabbiner Jitzchak ben Mosche aus Wien (etwa 1200–1270). Tatsächlich aber fand man den Text auch in der Geniza von Kairo und kann ihn in das 8. Jahrhundert datieren. Das war lange vor Rabbi Amnons Zeit.

Wird man also eingetragen oder nicht eingetragen in ein »Sefer Hachajim«, ein »Buch des Lebens«? Wir kennen es aus der Tora (2. Buch Mose 32,32): »Nun, wenn du ihre Sünde vergibst, wenn aber nicht, so lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast.«

Midrasch
Doch was ist mit denen, die nicht in das Buch des Lebens eingeschrieben werden? Die vom Weg abgewichen sind? »Unetane Tokef« gibt eine Antwort: »Doch Rückkehr (Teschuwa), Gebet (Tefilla) und Zedaka wenden das böse Verhängnis ab.« Dies ist ein Zitat aus einem Midrasch (Bereschit Rabba 44,12).

Aber seine Aussage widerspricht unserem Wissen über die Welt! Gute Menschen sterben, ganz gleich welchen Alters. Unschuldige Menschen sterben bei Katastrophen wie Vulkanausbrüchen oder Erdbeben. Es sind Ereignisse, auf die der Mensch keinen Einfluss hat. Der Talmud erklärt in Awoda Sara (54b), dass »die Natur ihren eigenen Lauf« hat, den wir nicht ändern oder beeinflussen können. Naturkatastrophen haben natürlich eine Ursache, aber die liegt nicht im Fehlverhalten eines Einzelnen oder einer Gruppe.

Unsere Lebenserfahrung scheint also dem »Unetane Tokef« Unrecht zu geben. Deswegen tun sich viele Menschen schwer mit dem Gebet. Doch »Unetane Tokef« widerspricht dem Talmud in Wirklichkeit nicht. Denn man kann es auch als Aufzählung verstehen, die uns bewusst macht, dass es Bereiche gibt, auf die wir keinen Einfluss haben – wie eben die Wasserflut oder den Krieg.

Naturgesetze Wir können die Naturgesetze oder den freien Willen anderer Menschen nicht ändern. Rabbiner Josef Albo (1380 – circa 1444) hat in seinen »Grundprinzipien« festgestellt, dass unsere Gebete in erster Linie uns ändern sollen – und nicht G’tt.

Es ist also keine Magie: Die Kombination »Gebet, Zedaka und Teschuwa« kann niemanden vor Naturgewalten schützen, aber eine Gesellschaft fördern, in der das Leben im Vordergrund steht. Alle drei im Zusammenspiel verändern denjenigen, der es tut, und die Gesellschaft, in der er dies tut.

Die Tora wird die »Lehre des Lebens« genannt oder »Baum des Lebens«. Wir »ändern« das Urteil, wie es in »Unetane Tokef« heißt, indem wir unsere eigene Haltung dazu ändern. Wir verstehen eine Hungersnot nicht als Bestrafung für unmoralisches Handeln, sondern als etwas, das eine andere Ursache hat.

Wenn wir der Lehre des Lebens nachfolgen, werden wir möglicherweise schon früher in die Lage versetzt, den anderen und seine Bedürfnisse zu erkennen. Am »Jom Hadin« können wir mit uns selbst hart ins Gericht gehen und überprüfen, was wir dazu beigetragen haben, eine lebenswerte Gesellschaft zu erschaffen, und ob wir das auch anderen, nicht zuletzt unseren Kindern, ermöglichen.

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025