Rosch Haschana ist auch der »Jom Hadin«, der Tag des Gerichts. Vor dem Feiertag wünschen wir »Chatima Towa«, eine gute Einschreibung bis Jom Kippur. Doch um welche Einschreibung in welches Buch geht es dabei eigentlich?
Besonders anschaulich wird die Antwort in dem Gebet »Unetane Tokef« gegeben, das wir an Rosch Haschana und Jom Kippur in den Synagogen lesen – ein Text, der durch Leonard Cohens Adaption »Who by fire« Bekanntheit erlangt hat.
Dessen Worte sind sehr nah am Original: »Am Neujahrstag werden sie eingeschrieben und am Tage der Versöhnung besiegelt, wie viele dahinscheiden und wie viele geboren werden, wer leben soll und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer vor seiner Zeit, wer durch Feuer und wer durch Wasser, wer durch Schwert und wer durch Hunger, wer durch den Sturm und wer durch Seuche, wer Ruhe haben wird und wer Unruhe, wer Rast findet und umherirrt, wer frei von Sorgen bleibt und wer voller Schmerzen, wer hoch und wer niedrig ist, wer reich und wer arm sein soll.«
Mainz Nicht nur Cohen hat das großartig intoniert, auch viele Vorbeter legen besonders viel Emotion in diesen Text, dessen Entstehungsgeschichte schon Legende ist. Angeblich soll Rabbi Kalonymus ben Meschullam (11. Jahrhundert) den Text aufgeschrieben haben, den ein Rabbiner Amnon aus Mainz gesprochen haben soll.
Er sei vor die Wahl »Tod oder Taufe« gestellt worden und habe sich Bedenkzeit erbeten. Das bereute er anschließend und lehnte es ab, sich taufen zu lassen. Er wurde gefoltert. Kurz bevor er seinen tödlichen Verletzungen erlag, sprach er in der Synagoge ebendieses Gebet.
Die Geschichte ist ergreifend und passt in ihre Zeit, ist aber offenbar nicht historisch. Sie basiert auf den Angaben von Rabbiner Jitzchak ben Mosche aus Wien (etwa 1200–1270). Tatsächlich aber fand man den Text auch in der Geniza von Kairo und kann ihn in das 8. Jahrhundert datieren. Das war lange vor Rabbi Amnons Zeit.
Wird man also eingetragen oder nicht eingetragen in ein »Sefer Hachajim«, ein »Buch des Lebens«? Wir kennen es aus der Tora (2. Buch Mose 32,32): »Nun, wenn du ihre Sünde vergibst, wenn aber nicht, so lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast.«
Midrasch Doch was ist mit denen, die nicht in das Buch des Lebens eingeschrieben werden? Die vom Weg abgewichen sind? »Unetane Tokef« gibt eine Antwort: »Doch Rückkehr (Teschuwa), Gebet (Tefilla) und Zedaka wenden das böse Verhängnis ab.« Dies ist ein Zitat aus einem Midrasch (Bereschit Rabba 44,12).
Aber seine Aussage widerspricht unserem Wissen über die Welt! Gute Menschen sterben, ganz gleich welchen Alters. Unschuldige Menschen sterben bei Katastrophen wie Vulkanausbrüchen oder Erdbeben. Es sind Ereignisse, auf die der Mensch keinen Einfluss hat. Der Talmud erklärt in Awoda Sara (54b), dass »die Natur ihren eigenen Lauf« hat, den wir nicht ändern oder beeinflussen können. Naturkatastrophen haben natürlich eine Ursache, aber die liegt nicht im Fehlverhalten eines Einzelnen oder einer Gruppe.
Unsere Lebenserfahrung scheint also dem »Unetane Tokef« Unrecht zu geben. Deswegen tun sich viele Menschen schwer mit dem Gebet. Doch »Unetane Tokef« widerspricht dem Talmud in Wirklichkeit nicht. Denn man kann es auch als Aufzählung verstehen, die uns bewusst macht, dass es Bereiche gibt, auf die wir keinen Einfluss haben – wie eben die Wasserflut oder den Krieg.
Naturgesetze Wir können die Naturgesetze oder den freien Willen anderer Menschen nicht ändern. Rabbiner Josef Albo (1380 – circa 1444) hat in seinen »Grundprinzipien« festgestellt, dass unsere Gebete in erster Linie uns ändern sollen – und nicht G’tt.
Es ist also keine Magie: Die Kombination »Gebet, Zedaka und Teschuwa« kann niemanden vor Naturgewalten schützen, aber eine Gesellschaft fördern, in der das Leben im Vordergrund steht. Alle drei im Zusammenspiel verändern denjenigen, der es tut, und die Gesellschaft, in der er dies tut.
Die Tora wird die »Lehre des Lebens« genannt oder »Baum des Lebens«. Wir »ändern« das Urteil, wie es in »Unetane Tokef« heißt, indem wir unsere eigene Haltung dazu ändern. Wir verstehen eine Hungersnot nicht als Bestrafung für unmoralisches Handeln, sondern als etwas, das eine andere Ursache hat.
Wenn wir der Lehre des Lebens nachfolgen, werden wir möglicherweise schon früher in die Lage versetzt, den anderen und seine Bedürfnisse zu erkennen. Am »Jom Hadin« können wir mit uns selbst hart ins Gericht gehen und überprüfen, was wir dazu beigetragen haben, eine lebenswerte Gesellschaft zu erschaffen, und ob wir das auch anderen, nicht zuletzt unseren Kindern, ermöglichen.