In unserem Wochenabschnitt fleht Mosche G’tt an, ihn ins Gelobte Land zu lassen. Aber der Ewige lehnt ab: »Das ist zu viel für dich! Hör auf, mit Mir über diese Angelegenheit zu sprechen!«
Der Midrasch fragt, welche Botschaft hinter G’ttes Worten steckt, und erklärt, dass vier Jahrzehnte zuvor, bei der Meuterei von Korach, kein anderer als Mosche genau diese Worte verwendet hatte.
Im 4. Buch Mose lesen wir davon, wie Korach eine Rebellion gegen Mosche anführt. Er und seine Männer protestieren gegen die Hierarchie unter den Israeliten. »Die gesamte Gemeinde ist heilig«, sagen sie, »warum erhebst du dich über G’ttes Gemeinde?!«
Mosche antwortet, dass nicht er, sondern G’tt entschieden hat, wer Hohepriester ist. Und dann sagt Mosche die verhängnisvollen Worte: »Dies ist zu viel für euch, Söhne Levis!« Mosche meinte, sie wollten zu viel und sollten mit dem, was sie hatten, doch zufrieden sein.
midrasch In einer zutiefst verwirrenden Interpretation kommentiert der Midrasch, G’tt habe genau diese Worte gegenüber Mosche verwendet, weil dieser sie einst gegenüber seinen Gegnern benutzte. Das ist auf den ersten Blick schwer zu verstehen.
Mosche wies Individuen zurecht, die sich dagegen auflehnten, dass G’tt angewiesen hatte, Aharon solle Hohepriester sein. Doch der Midrasch gibt zu verstehen, dass der Dialog zwischen Mosche und Korach fehlerhaft war.
Wir sehen uns gezwungen, zu folgendem Schluss zu kommen: Es war nicht falsch, dass Mosche Korach kritisierte, aber es waren die Worte »zu viel für euch«, die als falsch angesehen werden.
An dieser Stelle werden wir in die subtilen Ebenen des Tora-Textes eingeführt. Auf einer Ebene mögen wir über die Sünde lesen, und auf einer anderen Ebene vermittelt die Tradition des Midrasch die subtile Motivation hinter dieser Sünde.
Die Männer, die gegen Mosche und Aharon meuterten, waren nicht einfach Sünder oder radikale Egozentriker, die nach Macht strebten. Ihrer ungerechtfertigten Rebellion lag ein edler Traum zugrunde. Sie sehnten sich danach, auf Aharons spirituelle Ebene emporgehoben zu werden und die Intimität des Hohepriesters mit dem G’ttlichen erleben zu dürfen.
Auch Mosche hatte einen Traum, der nicht Realität werden konnte.
Ihre Rebellion war ein Fehler, aber die zugrunde liegende Leidenschaft war edel. Mosche hat ihre Meuterei schnell verurteilt – und ebenso den Traum, der dahintersteckte.
Aber auch Mosche hatte einen Traum, der nicht Realität werden konnte: Er sehnte sich danach, das Gelobte Land betreten zu dürfen und dessen Heiligkeit zu erleben. Auch sein Traum war edel, aber er konnte nicht Wirklichkeit werden.
Der Midrasch lehrt uns möglicherweise diese Lektion: Wir sollten unseren Träumen und den Träumen anderer Menschen keine Zügel anlegen, denn Träume und Sehnsüchte sind die Vorläufer von Entdeckungen und Veränderungen. Angst oder eine engstirnige Sichtweise sollten nicht die Wege der Vorstellungskraft behindern. Wir sollten unsere Schüler und Studenten und unsere Kinder dazu ermuntern zu träumen. Sicher, es können nicht alle Träume wahr werden – doch aus Angst vor Enttäuschung mit dem Träumen aufzuhören, hieße, G’ttes Geschenk der Freiheit abzulehnen.
Oder wie Mark Twain es ausdrückte: In 20 Jahren wird man enttäuschter über die Dinge sein, die man nicht getan hat, als über das, was man getan hat.
Forschung Anfang der 70er-Jahre ging der amerikanische Zellbiologe und Mediziner Judah Folkman einer Vermutung nach, die nicht zu dem passte, was die Krebsforschung für möglich hielt. Es hieß nämlich, dass Tumore keine neuen Blutgefäße erzeugen, um sich selbst zu »ernähren« und zu wachsen.
Doch Folkman war davon überzeugt, dass Tumore genau dies tun. Er ignorierte die Buhrufe seiner Kollegen und glaubte daran, dass seine Arbeit dabei helfen würde, das Wachstum von Tumoren zu stoppen und Wege zu finden, Blutgefäße dort wachsen zu lassen, wo sie gebraucht werden – zum Beispiel an verstopften Arterien im Herzen.
Gemeinsam mit einigen Kollegen entdeckte Folkman in den 80er-Jahren die ersten Angiogenese-Inhibitoren. Heute gilt seine Forschung als Meilenstein im Kampf gegen den Krebs, und viele Patienten profitieren davon.
erwartungen Wenn wir jung sind, träumen wir alle. Die meisten von uns können sich daran erinnern, wie wir als Kinder an diesem einen Fenster zu Hause, auf jener Bank im Park stundenlang saßen, vor uns hinstarrten und träumten – von einem unschuldigen, reinen, ganzheitlichen Leben.
Träume sind die Vorläufer von Entdeckungen und Veränderungen.
Viele von uns hatten früher mächtige Träume, die in den Himmel und darüber hinaus ragten – zum Beispiel den Traum von einer glücklichen Ehe, einem warmherzigen, offenen und schönen Heim, einer unglaublichen Karriere, einer besonderen Beziehung zu unseren Kindern, Geschwistern, Müttern, Vätern und zu G’tt. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Aber dann, irgendwann in unserem Leben, wird uns gesagt: Ravh Lach! – Hör auf zu träumen! Senk deine Erwartungen! Überleb einfach, bezahl deine Rechnungen und frag nicht nach mehr!
Ravh Lach – diese harten Worte können auf verschiedene Art und Weise auftauchen. Es mag der Tod eines Elternteils in jungen Jahren sein, der auf abrupte Weise das Sicherheitsgefühl eines Kindes beendet. Es mag jede andere Art von Schmerz oder Verlust sein, den man im Leben erfahren hat, der einem die Liebe, die Freude und den Optimismus genommen hat, den man einst sein Eigen nannte. Es mag Unsicherheit, Schuld, Enttäuschung, Misstrauen sein, die irgendwann im Leben unsere inneren, heiligen und g’ttlichen Träume zerstört haben. Oder es war ein Lehrer, ein Freund, ein Chef, der unsere Träume zynisch betrachtete, sich über unseren Idealismus mokierte und uns »beibrachte«, von unserem hohen Ross herabzusteigen.
Daher ist G’ttes besondere Botschaft an Mosche: Die Wahrheit mag uns manchmal ins Gesicht schlagen, aber entziehe anderen Menschen niemals ihre Träume! Und hör auch du selbst nie auf zu träumen! Denn wie der Baal Schem Tow sagte: »Dort wo deine Träume sind, bist du!«
Träume sind die menschliche Art, sich gegen den Status quo aufzulehnen. Sie demonstrieren einen Puls des Lebens, einen Ehrgeiz zu wachsen, den Frust über die Gegenwart. Und das ist die Genesis aller großen Leistungen. Deshalb, Freunde, denkt daran: Euer Traum – und unser Traum – stirbt nie.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Wa’etchanan beginnt mit der erneuten Bitte von Mosche, doch noch das Land betreten zu dürfen. Aber auch diesmal wird sie abgelehnt. Mosche ermahnt die Israeliten, die Tora zu beachten. Erneut warnt er vor Götzendienst und nennt die Gebote der Zufluchtsstädte. Ebenso wiederholt werden die Zehn Gebote. Dann folgt das Schma Jisrael, und dem Volk wird aufgetragen, aus Liebe zu G’tt die Gebote einzuhalten und die Tora zu beachten. Den Abschluss bildet die Aufforderung, die Kanaaniter und ihre Götzen aus dem Land zu vertreiben.
5. Buch Mose 3,23 – 7,11