Wer das Regelwerk der jüdischen Speisegesetzgebung verstehen will, wird schnell feststellen, dass es bei Weitem nicht ausreicht, nur Schweinefleisch zu meiden – und dass »koscher« erst recht nicht bedeutet, die Nahrung von einem Rabbiner segnen zu lassen. Stattdessen handelt es sich bei der Koschergesetzgebung um ein komplexes und vielschichtiges System von Regeln, das von der Zulässigkeit der zu essenden Tiere und Nahrungsmittel über deren Gewinnung, der Verarbeitung, der Zubereitung bis zum Servieren reicht.
Doch warum sind die Kaschrut-Regeln für uns wichtig? Welchen Sinn und Zweck haben die zahlreichen und komplizierten jüdischen Speisegesetze? Ist koscheres Essen vielleicht besser oder gesünder? Oder verbergen sich andere tiefgründigere Ideen hinter diesem Regelwerk?
Einschränkung Fest steht jedenfalls, dass es sich bei der Kaschrut, also den jüdischen Speisegesetzen, um ein System handelt, das vordergründig sowohl von Nichtjuden als auch von vielen Juden, die es mit der Gesetzestreue nicht ganz so genau nehmen und sich mit den Hintergründen nur selten eingehender beschäftigt haben, als antiquiert, kurios und als nicht hinnehmbare Einschränkung persönlicher Essensvorlieben empfunden wird.
Nichtsdestotrotz werden umgekehrt häufig der Wert und die Bedeutung dieser Gesetzgebung betont. So bezeichnet Rabbiner Chajim Halevy Donin in seinem Buch Jüdisches Leben die umfassenden Koscher-Regeln als Fundament, das von eminenter Wichtigkeit für den Fortbestand des jüdischen Volkes ist.
Das Fundament selbst sei zwar kein Haus, und man könne darin auch nicht leben, aber gleichzeitig würde ein Haus, das ohne oder aber auf schwachem Fundament gegründet sei, stets zum Einsturz neigen. Das Einhalten der Speisegesetze allein würde das gebaute Haus zwar nicht jüdisch machen, aber der Versuch, dieses Gebäude ganz ohne Beachtung der Koscher-Vorschriften zu errichten, gleiche dem Versuch, ein Haus ohne Fundament zu bauen.
Gründe Die Frage nach dem Sinn und Zweck, nach dem Warum haben wir damit allerdings noch immer nicht beantwortet! Widmen wir uns nun also der Auflösung: Die Tora selbst, die mit einer Handvoll Passagen die Grundlagen für den g’ttlichen Speiseplan bereitstellt, hält sich, was Gründe für die Koscher-Gesetze angeht, eher bedeckt.
Zwar enthält sie Anordnungen wie etwa die grundlegende Einteilung der erlaubten und verbotenen Tiere, das absolute Verbot jeglichen Blutgenusses oder das Verbot der Vermengung von Fleischigem und Milchigem – Vorschriften, die durch jahrtausendelange Auslegung, Interpretation und Anpassung der schriftlichen und mündlichen Lehre verfeinert und fortentwickelt wurden. Doch eindeutige und unmissverständliche Erklärungen sucht man zunächst vergeblich.
Heiligung Andeutungen für die Gründe dieses vielschichtigen Regelungswerkes finden sich in dem biblischen Text nur dadurch, dass sie meist von einem Aufruf zur Heiligkeit begleitet werden. So heißt es etwa im 3. Buch Mose 11,44 im Zusammenhang mit den Speisevorschriften: »Denn ich, der Ewige, bin euer G’tt, darum heiligt euch, so werdet ihr heilig werden, denn heilig bin ich.« Doch was bedeutet das? Was meint der Aufruf zur Heiligung?
Aufklärung verschafft ein Blick auf die grundlegenden Ideen, die im Judentum beheimatet sind. Wir gehen davon aus, dass es eine andauernde und immerwährende Aufgabe ist, unsere alltäglichen Handlungen und Verhaltensweisen zu heiligen, also sie dem Profanen, dem Irdischen zu entreißen, und sie quasi auf eine höhere, eine geweihte Ebene zu hieven.
Dabei ist die Unterscheidung und Abgrenzung zu den Tieren wesentlich. Wir heben uns von den Tieren vor allem dadurch ab, dass wir, die wir mit kognitiven Fähigkeiten, mit Erkenntnisreichtum und Abstraktionsvermögen gesegnet sind, in die Lage versetzt werden oder zumindest werden sollten, unsere Triebe zu beherrschen und zu kanalisieren.
Bedürfnisse Zwar unterscheiden sich unsere grundlegenden Bedürfnisse nach Nahrungsaufnahme und Sexualität nur wenig von denjenigen der Tiere, doch der Aufruf zur Heiligung verlangt von uns, diesen Trieben nicht ungezügelt, rücksichtslos und in jedem Moment nachzugeben, sondern sie auf eine uns Menschen würdige Stufe zu erheben. So sollen alltägliche Handlungen, wie etwa das Essen oder der Sexualtrieb, der schlichten und sofortigen Befriedigung entzogen werden und im Bewusstsein von G’ttes Allgegenwart zu einer religiösen Handlung erhoben werden.
Gerade die Kaschrut-Gesetze sind dafür ein Paradebeispiel, weil sie einen der grundlegendsten menschlichen Triebe, nämlich denjenigen nach Nahrungsaufnahme, in jedem Moment aus dem Banalen, dem Alltäglichen herausreißen und ihn in der täglichen Praxis auf eine höhere, menschenwürdige Stufe erheben. Dies führt dazu, dass wir sowohl uns selbst wie auch unser Einkaufs- und Essverhalten und schließlich auch den Blick auf unsere Umwelt positiv verändern.
In einer Passage des Midrasch Tanchuma, einer Interpretation der biblischen Vorschriften, heißt es dazu, die Kaschrut-Gebote seien nur erlassen worden, um die Menschen zu erziehen. Denn was liege dem Ewigen schon an der »Reinheit« oder »Unreinheit« der Tiere?
Fleischgenuss Diese Erziehung wirkt natürlich nicht nur in religiöser oder ritueller Hinsicht, sondern formt den Menschen vor allem auch ethisch-moralisch. Denn die Einhaltung der Kaschrut führt unter anderem dazu, dass diejenigen Tiere, die ein Jude töten und essen darf, stark eingeschränkt sind, und somit ein Kompromiss, eine Balance zwischen der Lust des Menschen nach Fleischgenuss und der wahl- und maßlosen Tötung von Tieren zur Befriedigung dieses Triebs geschaffen wurde.
Die Tiere, deren Genuss erlaubt ist, müssen zudem so schnell und schmerzlos wie nur möglich geschlachtet werden, um ihnen unnötiges Leid zu ersparen. Außerdem müssen die geschlachteten Tiere gänzlich ausbluten, da der Blutgenuss in jeder Form absolut verboten ist.
Dies hat seit jeher zu der jüdischen Aversion gegen jede Form des Blutvergießens geführt, zumal das Blut im Judentum als Sitz der Seele, als Symbol des Lebens gilt, das nach dem Tod abgelassen und damit G’tt zurückgegeben werden muss. Wir haben zwar das begrenzte und durch die Gebote stark reglementierte Recht, tierische Nahrung zu uns zu nehmen, gleichzeitig haben wir allerdings die Pflicht, das Leben und den Tod nicht zu vermengen, und müssen das Blut als Quell des Lebens nach Eintritt des Todes symbolisch dem Universum überantworten.
Zicklein Ein ähnlicher Gedanke liegt auch dem dreimaligen Toragebot zugrunde, wonach man das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen darf. Auch diese Vorschrift, die in der praktischen Umsetzung das Verbot des gemeinsamen Zubereitens oder Verspeisens von Fleischigem und Milchigem bedeutet, fußt auf dem Gedanken der strikten Trennung von Leben und Tod.
Während andere antike Hochkulturen, wie die Ägypter, vom Tod besessen waren und regelrechte Todeskulte entwickelten, die in den Pyramiden und Mumien einstiger Pharaonen verewigt wurden, besteht das Judentum seit jeher auf dem uneingeschränkten Wert des Lebens, auf der Heiligkeit des Lebens.
Im Rahmen der Speisegesetzgebung bedeutet dieses elementare Prinzip, dass das Zicklein, dem durch die Mutter das Leben geschenkt wurde und das eigentlich durch die Muttermilch, also durch das natürliche und nährende Lebenselixier versorgt werden sollte, nicht in eben dieser Milch gekocht werden darf. Die nährende Milch der Mutter, die Leben schenkt, darf nicht gleichzeitig dazu verwandt werden, Leben zu nehmen.
G’ttesgeschöpfe Rabbi Joseph Telushkin fasste all diese Ideen in seinem Buch Judentum heute folgendermaßen zusammen: »Jedes Mal, wenn sich ein Jude hinsetzt, um ein koscheres Mahl zu essen, wird er daran erinnert, dass das Tier, das er isst, ein Geschöpf G’ttes ist, dass der Tod einer solchen Kreatur eine ernste Sache ist, dass Jagen als Sport verboten ist, dass wir ein Lebewesen nicht unverantwortlich behandeln dürfen und dass wir dafür verantwortlich sind, was mit anderen Lebewesen geschieht, seien es menschliche oder tierische, auch wenn wir nicht persönlich mit ihnen in Kontakt kommen.«
Ein gesetzestreuer Jude allerdings wird diese unterschiedlichen positiven, erzieherischen und moralisch-ethischen Aspekte zwar zu schätzen wissen, doch wird seine Entscheidung, die Kaschrut einzuhalten, vor allem der Tatsache geschuldet sein, dass er damit G’ttes Gebote hält.
Kollateralnutzen Dies wird er wohlgemerkt in dem Wissen und der Sicherheit tun, dass der Ewige uns schon nichts befehlen wird, was für uns und die Welt nicht gleichzeitig irgendeinen Nutzen beinhaltet, selbst wenn uns diese Absicht nicht immer sofort einleuchtet oder offenbar wird. So oder so ist eines jedenfalls sicher: Die positiven Auswirkungen für den einzelnen Menschen, die Umwelt und die Tierwelt treten bei umfassender Beachtung der Kaschrut unabhängig von der Motivation desjenigen ein, der sie befolgt. Ein g’ttlicher Kollateralnutzen sozusagen.
Sicher ist außerdem Folgendes: Fragen Sie doch mal die unkoscheren Tiere, wie etwa Schweine, Pferde oder Garnelen, die nicht gegessen werden dürfen, was sie von Kaschrut halten. Ich garantiere Ihnen, dass sie den jüdischen Speiseplan lieben!
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.