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Schemot

Gerecht, bescheiden, dankbar

Mosche zeigt, welche Eigenschaften Führungspersönlichkeiten in der jüdischen Geschichte haben sollen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  05.01.2024 09:46 Uhr

Die Skulptur »Moses« von Michelangelo (1475–1564), Marmor, Rom 1515 Foto: picture alliance / Prisma Archivo

Mosche zeigt, welche Eigenschaften Führungspersönlichkeiten in der jüdischen Geschichte haben sollen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  05.01.2024 09:46 Uhr

Im Wochenabschnitt Schemot werden die Kinder Israels erstmals als Volk bezeichnet, ausgerechnet vom Pharao, mit der gleichzeitigen Absichtserklärung, es zu dezimieren und verschwinden zu lassen: »Siehe, das Volk der Kinder Israels ist zahlreich und mächtiger als wir. Komm, wir wollen es überlisten, damit es sich nicht vermehre« (2. Buch Mose 1, 9–10). Diesen Worten folgt ein Drei-Stufen-Plan von Versklavung und Unterdrückung über hinterlistige Tötungsversuche bis hin zur Anordnung, alle männlichen Neugeborenen zu töten.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) hebt in seinem Kommentar zur Haggada hervor, wie grausam dieses Gesetz insbesondere gegen die auf den Schutz der Regierung angewiesenen Fremden war. Kein Wunder, dass das israelitische Volk vor Schmerz stöhnte und aufschrie. Eine Befreiung aus dieser Situation wurde nicht nur sehnlich erwartet, sondern war auch für das Überleben dringend notwendig.

Erstaunlicherweise wird er in absoluter Anonymität geboren

Direkt nach Pharaos Befehlen lesen wir in unserem Wochenabschnitt von der Geburt jenes Mannes, der dazu bestimmt war, das israelitische Volk aus der Sklaverei zu führen: Mosche.

Erstaunlicherweise wird er in absoluter Anonymität geboren: »Ein Mann aus dem Hause Levi ging hin und heiratete eine Tochter Levis. Die Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn. Als sie sah, dass er gut war, verbarg sie ihn drei Monate« (2. Buch Mose 2, 1–2). Erst später erfahren wir, um wen es sich handelt und dass seine Eltern auch bekannte Namen tragen: Amram und Jochewed (6,20). Warum werden die Namen in der Geschichte nicht erwähnt?

Aus dieser Anonymität lässt sich erkennen, dass nicht nur einzelne Personen die Helden der Geschichte sind und den Auszug aus Ägypten herbeiführten. Die beschriebenen Menschen sind prototypisch für die Gesamtheit des Volkes, das sich insgesamt heldenhaft verhielt. Denn es hat in diesem dunklen Anfangskapitel seiner Geschichte nicht die Hoffnung verloren und aufgegeben, nicht aufgehört, an die Zukunft zu glauben, und damit das eigene Überleben trotz der grausamen Befehle Pharaos und der ägyptischen Gesetze gesichert.

Die Überlebenstaktik, das Kind zu verstecken, es im Fluss in einem Körbchen auszusetzen oder es auf anderen Wegen vor dem Zugriff der Ägypter zu bewahren, war kein Einzelfall, sondern die Überlebensstrategie vieler, die auf diese Weise dafür sorgten, dass es eine nächste Generation gab. Kaum entstanden, konnte sich das Volk nur so vor dem Verschwinden im Abgrund der Geschichte retten.

Mosche hatte besondere Eigenschaften, die ihn zum Anführer beim Auszug aus Ägypten werden ließen

Mosche hatte besondere Eigenschaften, die ihn zum Befreier und Anführer beim Auszug aus Ägypten werden ließen und schließlich auch zur zentralen Persönlichkeit, zum Propheten der Propheten, dem Überbringer der Tora: Anhand einzelner Begebenheiten vor seiner ersten Begegnung mit Gʼtt am brennenden Dornbusch wird der Charakter dieses Mannes aufgezeigt, der sich schon damals die wichtigen Qualitäten eines wahren Anführers angeeignet hatte.

Die Tora berichtet davon, dass Mosche, als er erwachsen geworden war, zu seinen Brüdern hinausging und deren schwere Arbeit sah (2. Buch Mose 2,11). Raschi (1040–1105) kommentiert diese Stelle so, dass Mosche ihre Leiden so intensiv betrachtete und sich zu Herzen nahm, dass er ihre Bedrängnis tatsächlich mitfühlte.

Rabbi Jerucham von Mir (1875–1936) führt aus: »Sein (Mosches) Mitgefühl ging weit über das übliche Maß hinaus: Der ›ägyptische‹ Prinz, dem eine Karriere am Hofe Pharaos offenstand, verstand es, an den Leiden seines (jüdischen) Volkes so sehr teilzunehmen, sie so sehr zu ›verinnerlichen‹, dass er sie selbst – an seinem eigenen Körper – fühlte, an der Lastarbeit mit ganzer Seele mittrug.«

Mosches ausgeprägter Gerechtigkeitssinn zeigte sich in drei direkt aufeinanderfolgenden Situationen, wobei er in jeder davon auf angemessene Art eingriff und für Recht zu sorgen versuchte:
Mosche sah, wie ein Ägypter einen Hebräer schlug: »Und er wandte sich nach allen Seiten und sah, dass kein Mann dort war« (2, 11–17). Er suchte jemanden, der sich für den unschuldig Geschlagenen einsetzen würde, doch da war niemand. Unsere Weisen sehen in der Bezeichnung des Peinigers und des Gepeinigten auch den Hintergrund für die Situation: Er wurde geschlagen, weil er ein Hebräer war. Mosche erkannte, dass er handeln musste, um der Gerechtigkeit Raum zu verschaffen; er erschlug den Ägypter und setzte sich damit für sein hilfloses und unterdrücktes Volk ein.

Am nächsten Tag ging Mosche hinaus und sah, wie sich zwei hebräische Männer stritten. Er erkannte, dass diesmal nicht ein Schwacher von einem Starken unterdrückt wurde, sondern dass sich zwei Gleichberechtigte gegenüberstanden. Dies veranlasste ihn, sich nach dem Grund des Streits zu erkundigen: »Weshalb schlägst du deinen Nächsten?«, fragte er den einen, wobei er mit der Befragung zugleich an die Vernunft beider appellierte. Sie wollten Mosche aber nicht als Schlichter ihres Streits akzeptieren und wiesen ihn mit der Bezeichnung »selbst ernannter Richter« ab. Zugleich verwarnten sie ihn, weil er am Tag zuvor einen Ägypter erschlagen hatte. Dadurch erfuhr Mosche, dass seine Tat bekannt geworden war.

Auch Pharao hörte von der Geschichte und wollte Mosche deswegen töten lassen. Aus diesem Grund musste Mosche fliehen. Er ließ sich an einem Brunnen im Land Midjan nieder. Kurz darauf kamen die sieben Töchter des midjanitischen Priesters Jitro dort an, um das Vieh ihres Vaters zu tränken. Als Mosche sah, wie die Hirten herbeikamen und die jungen Frauen vertrieben, stand er auf und verhalf den Unterdrückten zu ihrem Recht.

Die Bibelwissenschaftlerin Nechama Leibowitz (1905–1997) hebt hervor, dass diese dritte Episode die wahre Größe von Mosche erst richtig hervorbrachte. Nicht nur handelte es sich um völlig unbekannte Personen, mit denen er bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Geringsten verbunden war. Darüber hinaus war er selbst nun kein Prinz mehr, sondern ein Flüchtling, ein rechtloser Fremder, der am eigenen Leib erfuhr, welchen Preis man für den Einsatz für die gerechte Sache mitunter zahlen muss: um sein Leben zu bangen und fliehen zu müssen, um es zu retten. Dennoch zögerte er keinen Moment und setzte sich weiterhin für Gerechtigkeit und gegen Unterdrückung ein, mutig und ungeachtet jeglicher persönlichen Überlegungen.

Mosche wird in der Tora als bescheidenster aller Menschen bezeichnet (4. Buch Mose 12,3). Dies zeigte sich schon zu Beginn seines Weges. Als Gʼtt ihm, als er am brennenden Dornbusch steht, erscheint und ihn beauftragt, das Volk Israel in die Freiheit zu führen, wehrt er dies ab: »Wer bin ich denn schon – werde ich das Volk etwa aus Ägypten herausführen?« (2. Buch Mose 3,11).

Die Diskussion, die sich daraufhin entspannt, erstreckt sich über 39 Verse. Mosches Widerstand und letztes Argument: »Bitte schicke doch einen anderen« kann schließlich nur mit zorniger Gegenreaktion Gʼttes gebrochen werden.

Laut unseren Weisen zog sich dieses Gespräch über sieben Tage lang hin! Und dies, obwohl der Auftrag direkt von Gʼtt kam und am Sinn des Auftrags, das versklavte und unterdrückte Volk in die versprochene Freiheit zu führen, wohl kaum ein Zweifel seitens Mosche angebracht war. Der einzige Grund lag darin, dass Mosche sich, obwohl Gʼtt ihn auserwählt hatte, nicht für würdig hielt.

Mosche vergaß nicht, was er seinem Schwiegervater Jitro schuldig war

Auch nach erfolgtem Auftrag vergaß Mosche nicht, was er seinem Schwiegervater Jitro schuldig war, der ihn auf der Flucht vor dem Pharao gütig aufgenommen und ihm eine seiner Töchter zur Frau gegeben hatte. Obwohl Mosche nun eine gʼttliche Mission zu erfüllen hatte, bat er Jitro zuerst um Erlaubnis, bevor er von ihm wegzog (Kommentar Raschi) – so groß war seine Dankbarkeit. Erst als Jitro ihn mit den Worten »Gehe in Frieden« entließ, zog er los.

Aufrichtige Empathie, Sinn für Gerechtigkeit und Verantwortung, Bescheidenheit und ein stetes Gefühl von Dankbarkeit – dies sind einige der unabdingbaren Eigenschaften, welche die herausragenden Führungspersönlichkeiten in der jüdischen Geschichte von Anfang an auszeichneten.

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

inhalt
Der Wochenabschnitt Schemot erzählt von einem neuen Pharao, der die Kinder Israels versklavt. Er ordnet an, alle männlichen Erstgeborenen der Hebräer zu töten. Eine Frau aus dem Stamm Levi will ihren Sohn retten und setzt ihn in einem Körbchen auf dem Nil aus. Pharaos Tochter findet das Kind, adoptiert es und gibt ihm den Namen Mosche. Der Junge wächst im Haus des Pharaos auf. Erwachsen geworden, erschlägt Mosche im Eifer einen Ägypter und muss fliehen. Er kommt nach Midjan und heiratet dort die Tochter des Priesters Jitro. Der Ewige spricht zu Mosche aus einem brennenden Dornbusch und beauftragt ihn, zum Pharao zu gehen und die Kinder Israels aus Ägypten hinauszuführen.
2. Buch Mose 1,1 – 6,1

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